Bismarcks Erben Logo

Reichsverfassungsurkunde

vom 16. April 1871 und die wichtigsten Administrativgesetze des deutschen Reichs mit einer systematischen Darstellung der Grundzüge des deutschen Verfassungsrechts.
Herausgegeben und erläutert von Emil Riedel im Verlag C.H. Beck, Nördlingen 1871.

Zweite Abtheilung. Verfassung des deutschen Reiches.
← Präambel | Seite 79-80 | Artikel 2 →

Artikel 1.

Das Bundesgebiet1) besteht aus den Staaten2) Preußen mit Lauenburg, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen, Mecklenburg-Schwerin, Sachsen-Weimar, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, Braunschweig, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Koburg-Gotha, Anhalt, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, Waldeck, Reuß älterer Linie, Reuß jüngerer Linie, Schaumburg-Lippe, Lippe, Lübeck, Bremen und Hamburg.3)

1) a. In Betreff des Ausdruckes „Bundesgebiet“ äußerte Fürst von Bismarck im deutschen Reichstage (stenogr. Ber. 1871 S. 95): „Bei den Worten „Reichsgebiet“ und „Bundesgebiet“ gebe ich gern zu, daß der Unterschied sich nicht nothwendig und scharf fühlbar macht. Es kommt aber auf den sprachlichen Begriff an, den man mit „Reich" und „Gebiet“ verbindet. Wir haben geglaubt, daß auch da, weil die Souvränität, die Landeshoheit, die Territorialhoheit bei den einzelnen Staaten verblieben ist, bei Bezeichnung des Gesammtgebiets der Begriff des Bundesverhältnisses in den Vordergrund zu stellen sei.“

b. Über die Einheit des Bundesgebietes gegen Außen und nach Innen siehe oben die erste Abtheilung § 2 Ziff. IV und § 3 Ziff. V.

2) Die Verfassung spricht sich nicht direkt darüber aus, ob nur das gegenwärtige d. h. bei Eingehung der Verträge feststehende, oder das jeweilige d. h. im Laufe der Zeit veränderte Gebiet der Einzelstaaten gemeint sei, und es entsteht daher die Frage, in wieferne die Einzelstaaten berechtigt sind, selbstständig und ohne Mitwirkung der Reichsgewalt Veränderungen in ihren Territorien vorzunehmen. *)

Bei der Beantwortung dieser Frage wird zu unterscheiden sein zwischen Gebietsabtretungen an andere Bundesstaaten und zwischen Abtretungen an ausländische Mächte. Im ersteren Falle bleibt das Bundesgebiet gegen Außen unverändert und es wird insbesondere kein Theil desselben der verfassungsmäßigen Einwirkung der Reichsgewalt entzogen; die Einzelstaaten sind daher, da ihre Territorialgewalt in dieser Hinsicht durch die Verfassung keiner positiven Beschränkung unterworfen ist, befugt, derartige Veränderungen, insoferne damit nicht etwa die oben in Note 2 zum Eingange der Verfassung besprochene Auflösung des betreffenden Staatswesens verbunden ist, nach eigenem Ermessen vorzunehmen, und die Träger der Reichsgewalt haben lediglich zu erwägen, ob nicht durch die Gebietsabtretung eine solche Veränderung in den Machtverhältnissen des einen oder anderen Staats eingetreten ist, daß eine im Wege der Verfassungsänderung vorzunehmende Modifikation der bestehenden Stimmverhältnisse angezeigt erscheint.

Anders gestaltet sich die Sache bei Gebietsabtretungen an auswärtige Staaten. Mit dem Eintritte in den Bund hat jeder Einzelstaat sein dermaliges Gebiet bestimmten Einwirkungen der Reichsgewalt unterworfen; eine Gebietsveränderung, wodurch diese Einwirkung alterirt würde, berührt daher nicht blos den Einzelstaat sondern auch das Reich und ist ebendeßhalb ohne dessen Zustimmung nicht möglich. - Die Formen, unter denen diese letztere zu ertheilen ist, werden jedoch je nach der Natur der Gebietsabtretung verschieden sein.

Soll das ganze Gebiet des betreffenden deutschen Staates dem fremden inkorporirt werden, so liegt - wie bereits oben in Note 2 zum Eingange der Verfassung bemerkt - eine nur mit Zustimmung aller Kontrahenten zulässige Aenderung des Grundvertrages vor; handelt es sich dagegen nur um Abtretung eines Gebietstheiles, so dürfte die Zustimmung lediglich den Charakter einer Verfassungsänderung an sich tragen und hiernach zu behandeln sein. Zu bloßen Grenzregulierungen endlich wird eine Zustimmung des Reichs überhaupt nicht erforderlich sein, da das Reich nur insoweit ein Recht auf die Territorien der Einzelstaaten erlangte, als deren Grenzen zur Zeit des Vertragsabschlusses thatsächlich und rechtlich feststanden, eine Grenzregulierung aber in der Regel nur als nachträgliche Feststellung der Grenzen erscheint.

Vergrößert ein deutscher Staat sein Gebiet durch auswärtiges Land, so wird der betreffende Gebietstheil nur im Wege einer Verfassungsänderung dem Reichsgebiete inkorporirt werden können.

3) Kraft des Friedensvertrages von 10./20. Mai 1871 gehören nunmehr auch Elsaß und Theile Lothringens zum Bundesgebiete. Vergleiche hiezu das Reichsgesetz vom 9. Juni 1871, Reichsgesetzblatt S. 212 u. 213.

*) Vergleiche hierzu oben die Bemerkung zum Eingange der Verfassung Note 2) a.

zum Seitenanfang

← Präambel | Seite 79-80 | Artikel 2 →


zur Inhaltsübersicht | zur Startseite | zu Bismarcks Erben