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Reichsverfassungsurkunde

vom 16. April 1871 und die wichtigsten Administrativgesetze des deutschen Reichs mit einer systematischen Darstellung der Grundzüge des deutschen Verfassungsrechts.
Herausgegeben und erläutert von Emil Riedel im Verlag C.H. Beck, Nördlingen 1871.

Zweite Abtheilung. Verfassung des deutschen Reiches. II. Reichsgesetzgebung.
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Artikel 2.1)

Innerhalb dieses Bundesgebietes2) übt das Reich das Recht der Gesetzgebung3) nach Maßgabe des Inhalts dieser Verfassung4) und mit der Wirkung aus, daß die Reichsgesetze den Landesgesetzen5) vorgehen.6)

Die Reichsgesetze erhalten ihre verbindliche Kraft durch ihre Verkündigung von Reichswegen, welche vermittelst eines Reichsgesetzblattes geschieht. Sofern nicht in dem publizirten Gesetze ein anderer Anfangstermin seiner verbindlichen Kraft bestimmt ist, beginnt die letztere mit dem vierzehnten Tage nach dem Ablauf desjenigen Tages, an welchem das betreffende Stück des Reichsgesetzblattes in Berlin ausgegeben worden ist.7)

1) Dieser Artikel wurde unverändert aus der norddeutschen Bundesverfassung übertragen, und nur die Ausdrücke „Bundesgesetzblatt“ und „von Bundeswegen“ wurden in „Reichsgesetzblatt“ und „von Reichswegen“ umgewandelt.

2) Hierdurch ist lediglich die äußere Grenze des Gebietes der Reichsgesetzgebung bezeichnet; dem Reiche ist unbenommen, die Wirksamkeit eines Gesetzes auf das ganze Bundesgebiet auszudehnen oder auf einzelne Gebietstheile zu beschränken. Der Charakter eines Gesetzes als Reichsgesetz wird dadurch, daß in demselben Ausnahmen bezüglich einzelner Staaten gemacht sind, nicht alterirt.

3) Über die Organe der gesetzgebenden Gewalt des Reiches und den Umfang der letzteren siehe oben die Erörterungen in der ersten Abtheilung § 7 S. 37 ff.

Die Verfassung enthält keine Bestimmung darüber, in welchem Maße das Reich seine Gesetzgebungsbefugniß bezüglich der in seine Kompetenz fallenden Materien auszuüben hat. Dasselbe kann daher eine bestimmte Materie ganz und bis ins Detail regeln, oder sich auf die Regelung einzelner Theile oder die Aufstellung allgemeiner Grundsätze beschränken und das Uebrige der Landesgesetzgebung überlassen. Auch bleibt es den Organen der Reichsgesetzgebung anheimgegeben, bestimmte Gegenstände an die Verordnungsbefugniß des Bundesraths, des Bundespräsidiums oder eines Vollzugsorganes zu überweisen; vergl. z. B. das Gesetz über die Verpflichtung zum Kriegsdienste vom 9. November 1867 §19, dann die Maaß- und Gewichtsordnung vom 17. Aug. 1868.

4) Die Verfassung bestimmt die Organe der Reichsgesetzgebung, die Art und Weise des Zustandekommens und der Verkündigung der Reichsgesetze, und die Materien, auf welche sich die Reichsgesetzgebung erstrecken kann; siehe das Nähere oben S. 37 ff.

Die Frage, ob ein Gegenstand nach der Verfassung zur Zuständigkeit der Reichsgesetzgebung gehört, ist im einzelnen Falle von den Reichsgesetzgebungsfaktoren zu entscheiden. Zweifelhaft ist, ob im Bundesrathe hiebei rücksichtlich der Anerkennung der Zuständigkeit die Bestimmung in Art. 78 Abs. 1 der Verfassung Maaß zu geben habe oder nicht. Nimmt man das Erstere an, so besteht offenbar eine Gefahr für die Weiterentwickelung des Verfassungsrechts, huldigt man aber der Ansicht, daß die Frage, ob in einem gegebenen Falle eine Verfassungsänderung vorliege, durch einfachen Majoritätsbeschluß entschieden werden könne, so verliert die in Art. 78 Abs. I enthaltene Garantie wesentlich an Werth; vergl. hiezu Hirsemenzel, Verfassung des norddeutschen Bundes S. 9.*) Es versteht sich von selbst, daß, wenn die Reichsgesetzgebungsfaktoren sich in einem Falle für die Kompetenz des Reiches entschieden und ein Gesetz erlassen haben, weder ein Einzelstaat noch ein Vollzugsbeamter berechtigt ist, deßhalb weil er die Kompetenz nicht für gegeben erachtet, den Vollzug zu verweigern.

5) Der Ausdruck „Landesgesetz“ wird hier im Sinne von Landesrecht zu nehmen sein, denn auch die Landesverordnungen oder das in einem Staate bestehende Gewohnheitsrecht dürfen sich nicht im Widerspruche mit einem Reichsgesetze befinden.

6) Die Regel, daß die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen, hat zunächst

a. die Wirkung, daß alle landesrechtlichen Bestimmungen, welche einem Reichsgesetze zuwiderlaufen, ihre Geltung verlieren, und zwar ipso jure und ohne daß es einer besonderen Aufhebung in einem Reichs- oder Landesgessetze bedürfte; erstreckt sich das Reichsgesetz nur auf einzelne Theile einer in einem Landesgesetze geregelten Materie, so bleibt das letztere bezüglich der nicht getroffenen Theile in Wirksamkeit, vorausgessetzt, daß nicht die Absicht der Reichsgesetzgebung, diese Theile von jeder gestztlichen Regelung prinzipiell auszuschließen, aus dem Reichsgesetze klar hervorgeht.

Hieraus folgt, daß die Einzelstaaten ihre durch Reichsgesetz zweifellos aufgehobenen Gesetze nicht nochmals außer Wirksamkeit zu sehen haben, andererseits aber einen Akt der Loyalität gegen das Reich erfüllen, wenn sie Landesgesetze, welche zwar nicht direkt aber doch den Prinzipien der Reichsgesetzgebung widersprechen oder sonst in Bezug auf ihre fernere Geltung Bedenken erregen, revidiren und in entsprechende Harmonie mit der Reichsgesetzgebung bringen.

b. Eine weitere Wirkung der obigen Regel besteht darin, daß über eine durch Reichsgesetz bereits erschöpfend geregelte Materie neuere Landesgesetze nicht erlassen werden können; siehe oben S. 37 ff.

c. Die beiden sub a und b erwähnten Wirkungen treten nur ein, wenn das Reich von seiner Gesetzgebungsbefugniß im einzelnen Falle wirklich Gebrauch gemacht hat, wie in der oben S. 37 ff. angeführten Ziff. VI des bayrischen Schlußprotokolls ausdrücklich constatirt wurde.

d. Eine spezielle Anwendung hat die in Rede stehende Regel im Einführungsgesetze zum deutschen Strafgesetz buche vom 31. Mai 1870 gefunden. Hiernach sind nicht bloß die im Strafgesetzbuche behandelten Materien der Landesgesetzgebung entzogen, sondern es ist auch die Höhe und Art der Strafen, welche von der Landesgesetzgebung in Bezug auf die ihrer Zuständigkeit verbleibenden Materien in Zukunft angedroht werden können, genau fixirt. Unter „Materie“ im Sinne dieses Einführungsgesetzes wird eine Gruppe strafbarer Handlungen zu verstehen sein, welche in subjektiver und objektiver Hinsicht gleichgeartet sind und deßhalb nicht wohl einzeln, sondern nur im Zusammenhange behandelt werden können, so daß die durch das Strafgesetzbuch erfolgte Regelung als eine in positiver und negativer Richtung erschöpfende betrachtet werden muß. - Diese Voraussetzung trifft nicht zu, bezüglich der im 29. Abschnitte behandelten Polizeiübertretungen. Hier hat der Gesetzgeber, wie auch aus dem Anhange I zu den Motiven (Stenogr. Ber. pro 1870 Bd. III S. 86 ff.) hervorgeht, offenbar nur einzelne strafbare Thatbestände aneinandergereiht, und nicht etwa die mit einer solchen Handlung im Zusammenhange stehende Materie erschöpfen wollen.

e. Die Prüfung der Frage, ob ein Landesgesetz durch die Reichsgesetzgebung ganz oder theilweise aufgehoben sei, ist in Ermanglung einer speciellen reichs- oder landesgesetzlichen Bestimmung oder einer sonstigen verbindlichen Erklärung der hiezu berufenen Organe dem Richter resp. Vollzugsbeamten anheimgestellt.

7) Der Tag der Ausgabe des Reichsgesetzblattes ist auf jeder Nummer desselben bemerkt. Die auf Grund des Reichsgesetzes vom 22. April 1871 (cf. Beilage zum bayrischen Gesetzblatte pro 1870/71 S. 2) in Bayern eingeführten Gesetze, bei welchen kein bestimmter Kalendertag als Einführungstermin angegeben ist, sind z. B. am 18. Mai 1871 in Bayern in Wirksamkeit getreten, da das betreffende Reichsgesetzblatt am 29. April 1871 in Berlin ausgegeben worden ist. Nach § 24 des Gesetzes, betreffend die Organisation der Bundesconsulate etc. vom 8. November 1867 erlangen neue Reichsgesetze in den Konsular-Jurisdiktionsbezirken nach Ablauf von 6 Monaten. von dem Tage an gerechnet, an welchen dieselben im Reichsgesetzblatte verkündet worden sind, verbindliche Kraft. (Bundesgesetzblatt 1867 S. 142.)

*) In der Württembergischen Kammer wurde die ähnliche Frage, ob die Schutz- und Trutzbündnisse der verfassungsmäßigen Majorität bedürften, im Jahr 1867 durch einfache Majorität verneint.

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