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Reichsverfassungsurkunde

vom 16. April 1871 und die wichtigsten Administrativgesetze des deutschen Reichs mit einer systematischen Darstellung der Grundzüge des deutschen Verfassungsrechts.
Herausgegeben und erläutert von Emil Riedel im Verlag C.H. Beck, Nördlingen 1871.

Zweite Abtheilung. Promulgationsgesetz, Reichsverfassung und Anhang.
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B.

Verfassungsurkunde des deutschen Reiches.

Vorbemerkung: I. Die vorliegende Verfassungsurkunde, deren Entstehung bereits oben in der ersten Abtheilung § 1 und in den Vorbemerkungen zu dem Promulgationsgesetze (Seite 63 ff.) näher dargelegt wurde, hat sich aus der norddeutschen Bundesverfassung entwickelt, indem die letztere bei den Vertragsabschlüssen mit den süddeutschen Staaten zum Ausgangspunkte genommen1) und nur soweit abgeändert wurde, als es den Kontrahenten nothwendig oder räthlich erschien. Diese Änderungen charakterisiren sich, wie der Präsident des Bundeskanzleramtes in seiner Rede vom 5. Dezember 1870 (Stenogr. Ber. des nordd. Reichstags 1870, II. außerordentl. Session Seite 69) hervorhob, „in der Hauptsache darin, daß der föderative Charakter der Bundesverfassung verstärkt ist."

Sie betreffen außer einzelnen minder wichtigen Dingen namentlich die Schaffung eines Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, dann den Einfluß des Bundesraths auf Kriegserklärungen und dessen Recht, die Execution gegen renitente Bundesglieder anzuordnen, endlich verschiedenen Ausnahmen zu Gunsten der neu beigetretenen Staaten, nemlich zu Gunsten Bayerns, Württembergs und Badens in Betreff der Bier- und Branntweinsteuer, zu Gunsten Bayerns und Württembergs in Bezug auf die Post- und Telegraphenverwaltung sowie auf das Militärwesen und zu Gunsten Bayerns allein bezüglich einiger Gesetzgebungsmaterien.2)

II. Ueber die Entstehung der norddeutschen Bundesverfassung, welche in Zweifelsfällen als ein wichtiger Auslegungsbehelf zu dienen haben wird, ist Folgendes zu bemerken:

1) Die Reform der früheren deutschen Bundesverfassung war seit lange von den Regierungen wie von dem deutschen Volke als dringendes Bedürfniß erkannt worden; allein die verschiedenen hierauf gerichteten Versuche schlugen fehl, und zwar sowohl der im Jahre 1848 von Gesammtdeutschland genommene Anlauf, als die im Jahre 1850 von Preußen und später im Jahre 1863 durch Berufung des deutschen Fürstentags von Oesterreich ergriffene Initiative. Schon bei letzterer Gelegenheit hatte sich die preußische Regierung in einer an die übrigen deutschen Staaten am 22. September 1863 gerichteten Depesche dahin erklärt, daß sie eine befriedigende Gestaltung der deutschen Verhältnisse nur erwarten könne, wenn zugleich ein deutsches Parlament ins Leben gerufen würde. Anknüpfend hieran stellte die genannte Regierung am 9. April 18663) bei dem früheren deutschen Bunde in Frankfurt den förmlichen Antrag auf Einberufung einer aus direkten Wahlen und dem allgemeinen Stimmrechte der ganzen Nation hervorgehenden Versammlung.

In einer Depesche vom 27. Mai 18664) wurde sodann die Nothwendigkeit einer Bundesreform wiederholt betont und zugleich eine Uebersicht über die der neuen Bundesgewalt zuzuweisenden Vefugnisse gegeben. – Mit Circulardepesche vom 10. Juni 18665) endlich theilte Preußen den deutschen Regierungen einen aus 10 Artikeln bestehenden Bundesentwurf mit, welcher davon ausging, daß Oesterreich und die unter den Niederlanden stehenden deutschen Landestheile außerhalb des Bundes bleiben sollen, daß die Gesetzgebung in Betreff der das Gesammtinteresse Deutschlands berührenden Fragen von dem Bundestage im Vereine mit einer Nationalvertretung ausgeübt werde und daß aus den sämmtlichen deutschen Streitkräften eine Nord und eine Südarmee zu bilden sei, von denen die erstere im Krieg und Frieden unter dem Oberbefehle Preußens und die letztere in eben dem Maaße unter Bayern zu stehen hätte.

2) Alle diese Vorschläge blieben im ersten Momente resultatlos. Nach Beendigung des österreichisch-preußischen Krieges aber vereinigten sich die nord- und mitteldeutschen Staaten in den Bündnißverträgen6) vom 18. und 21. August 1866, beziehungsweise in den Friedensschlüssen vom 3. September, 26. September, 8. Oktober und 21. Oktober 1866 dahin, daß eine definitive Bundesverfassung unter- Mitwirkung eines deutschen Parlaments auf der Basis der preußischen Grundzüge vom 10. Juni 1866 hergestellt werden solle.

In Folge dessen ließ die preußische Regierung einen Verfassungsentwurf ausarbeiten, welcher von den am 15. Dezember 1866 in Berlin versammelten Bevollmächtigten der verbündeten Regierungen zuerst einer vertraulichen Besprechung unterzogen und in den Sitzungen vom 18. und 28. Januar, dann 7. Februar 18677) förmlich festgestellt wurde.

Hierauf wurde der nach den Grundsätzen des Reichswahlgesetzes8) vom 12. April 1849 gewählte constituirende Reichstag nach Berlin berufen und am 24. Februar 1867 eröffnet. Der Reichstag, welchem der Entwurf am 4. März 1867 (Stenogr. Ber. S. 41 ff.) zur Vorlage gelangte, beschäftigte sich mit der Vorberathung desselben vom 9. März bis zum 10. April 1867 (Stenogr. Ber. S. 101 bis S. 693), worauf sodann am 15. und 16. April 1867 die Schlußberathung folgte, welche damit endete, daß der in ziemlich vielen Punkten modificirte Entwurf mit 230 gegen 53 Stimmen angenommen wurde. – Am 17. April 1867 erklärte Fürst von Bismarck, daß der vom Reichstage beschlossene Verfassungsentwurf von den Kommissarien der Regierungen einstimmig angenommen worden sei.

Nachdem diese Annahme später von den gesetzgebenden Faktoren der Einzelstaaten gutgeheißen worden war, erfolgte mittelst Publikandums vom 26. Juli 1867 die Veröffentlichung der norddeutschen Bundesverfassung im Bundesgesetzblatte von 1867 Nr. 1.

3) Zu erwähnen ist, daß der Verfassungsentwurf vielfache Angriffe zu erdulden hatte, von denen sich die lebhaftessten auf den Mangel von Grundrechten des deutschen Volkes, auf die Befugnisse des Bundesraths und die Stellung des preußischen Staates im Bunde, auf die Ministerverantwortlichkeit, auf die Diätenlosigkeit der Abgeordneten, auf das Budgetrecht des Reichstags und dessen Stellung überhaupt, sowie auf das Militärwesen bezogen. Verschiedene Bedenken wurden durch die im constituirenden Reichstage beschlossenen Modifikationen des ersten Entwurfs beseitigt; die berechtigten Wünsche in Betreff der Freiheitsrechte des deutschen Volks wurden später im Wege der Einzelgesetzgebung großentheils erfüllt, die Befürchtungen, daß der Bundesrath die Entwicklung der Verfassung hemmen und den preußischen Staat majorisiren werde, erwiesen sich bis jetzt als grundlos, und die Einrichtungen bezüglich des Militärwesens haben sich im Jahre 1870 glänzend erprobt ; so kam es, daß viele Gegner des Verfassungsentwurfs im Laufe weniger Jahre zu eifrigen Anhängern und Verfechtern der norddeutschen Bundesverfassung wurden.

III. In eine weitere Phase der Entwickelung traten die deutschen Verhältnisse durch den am 8. Juli 1867 zwischen dem norddeutschen Bunde und den süddeutschen Staaten abgeschlossenen Zollvereinsvertrag9), durch welchen die gesetzgebende Gewalt in Bezug auf das Handels- und Zollwesen und einzelne der in Art. 35 der Verf. erwähnten indirekten Steuern auf den in derselben Weise wie der norddeutsche Bundesrath zusammengesetzten Zollbundesrath und das Zollparlament übertragen wurde, welches aus den Mitgliedern des norddeutschen Reichstags und aus - nach gleichen Principien gewählten - Vertretern des süddeutschen Volkes bestand. Dieser Vertrag, dessen Dauer vorläufig bis zum letzten Dezember 1877 in Aussicht genommen war, ist nunmehr durch die Bestimmungen in Art. 33 ff. der Reichsverfassung ersetzt, und das Verhältniß ist zu einem definitiven verfassungsmäßigen umgestaltet.

1) Der Eingang der Ziff. II des bayrischen Vertrages lautet: „die Verfassung des deutschen Bundes ist die des bisherigen norddeutschen Bundes, jedoch mit folgenden Abänderungen.“

2) Vergl. hiezu oben Abtheilung I § 3 Ziff. VII Seite 11 ff.

3) Abgedruckt in dem europäischen Geschichtskalender von Schultheß 1866, Ergänzungsheft S. 33 ff.

4) Abgedruckt in dem europ. Geschichtskalender 1866 S. 65 ff.

5) Abgedruckt ibidem S. 83 ff.

6) Die Bündnißverträge vom 18. n. 21. August 1866 sind abgedruckt in den Anlagen zu den stenographischen Berichten des constituirenden Reichstags v. 1867 S. 27 ff.;. der hessische Friedensvertrag vom 3. Septemb. 1866 ebendaselbst S. 29; der Friedensvertrag mit Reuß älterer Linie und Sachsen-Meiningen-Hildburghausen vom 26. Septb. resp. 8. Oktob. 1866 ebendaselbst S. 31 ff.; der sächsische Friedensvertrag vom 21. Okt. 1866 endlich ebendaselbst S. 32 ff.

7) Die Protokolle dieser Sitzungen sind in den Anlagen zu den stenogr. Berichten des constituirenden Reichstags v. 1867 S. 17 ff. veröffentlicht.

8) Vergl. hierüber Thudichum Verfassungsrecht, S. 16.

9) S. Bayr. Gesetzbl. 1866/69, S. 89 ff.

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