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Reichsverfassungsurkunde

vom 16. April 1871 und die wichtigsten Administrativgesetze des deutschen Reichs mit einer systematischen Darstellung der Grundzüge des deutschen Verfassungsrechts.
Herausgegeben und erläutert von Emil Riedel im Verlag C.H. Beck, Nördlingen 1871.

Dritte Abtheilung. V. Abschnitt. Bundes- und Staatsangehörigkeit.
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V. Abschnitt

Bundes- und Staatsangehörigkeit.

Vorbemerkung. I. Das durch Art. 3 der Verfassung geschaffene gemeinsame Indigenat, die Bundesangehörigkeit, welche in den Motiven des bezüglichen Gesetzentwurfs „als der Inbegriff der durch die Verfassung und Gesetzgebung des Bundes begründeten Beziehungen der Deutschen sowohl zum Bunde als auch zu den einzelnen Bundesstaaten“ definirt wird, ist nicht wie z. B. das Unions-Bürgerrecht der vereinigten Staaten von Nordamerika ein unmittelbares, selbstständiges Rechtsverhältniß, sondern hat ähnlich wie das Schweizerische Bürgerrecht das kantonale Indigenat, die Angehörigkeit in einem deutschen Einzelstaate zur Grundlage und Voraussetzung.

In Folge dessen fand die Erwerbung und der Verlust des Bundesindigenats im norddeutschen Bunde nach den verschiedensten Bestimmungen und Systemen statt. Um diesem Mißstande abzuhelfen und zugleich den Uebergang von einem deutschen Staate in den anderen entsprechend zu regeln, wurde im Hinblick auf Art. 4 Nr. 1 der Verfassung das Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 1870[1] erlassen, welches am 1. Januar 1871 in sämmtlichen deutschen Staaten mit Ausnahme Bayerns in Wirksamkeit getreten ist. Der Entwurf dieses Gesetzes nebst Motiven ist in Nr. 11 der Anlagen zu den Stenogr. Ber. des Reichstags 1870 S. 153 ff. abgedruckt; die über den Entwurf gepflogenen Reichstagsverhandlungen finden sich in den Sten. Ber. S. 81 ff und S. 1076 ff. In Bayern gelangte das in Rede stehende Gesetz durch das Gesetz vom 22. April 1871, die Einführung norddeutscher Gesetze in Bayern betrffd., mit der Wirksamkeit vom 13. Mai 1871 an zur Einführung zugleich wurden bei dieser Gelegenheit die in Folge der Gründung des deutschen Reichs obsolet gewordenen Bestimmungen in § 1 Abs. II, § 8 Abs. 3 und § 16 des Gesetzes für das ganze Reich aufgehoben.

II. Durch das Reichsgesetz vom 1. Juni 1870 ist die Materie erschöpfend geregelt, es sind daher alle Landesgesetze über die Erwerbung und den Verlust der Staatsangehörigkeit außer Kraft getreten und können neue Landesgesetze über diesen Gegenstand nicht mehr erlassen werden.

III. Die Hauptbestimmungen des Gesetzes sind folgende:

1. der verfassungsmäßige Grundsatz, daß die Bundesangehörigkeit durch die Angehörigkeit in einem Einzelstaate bedingt sei und mit der letzteren erworben und verloren werde, ist im Gesetze beibehalten, zugleich aber ist

2. in demselben bestimmt, daß in allen Einzelstaaten die nämlichen Vorschriften über die Erwerbung und den Verlust der Staatsangehörigkeit zur Anwendung zu kommen haben, und es sind demgemäß

3. die Bedingungen, unter welchen künftig die Staatsangehörigkeit in einem Einzelstaate allein begründet oder verloren werden kann, im Gesetze vollständig aufgezählt.

4. das Prinzip, wonach das Indigenat als Zubehör der Gemeindeangehörigkeit behandelt und mit dieser erlangt wird, ist im Gesetze völlig aufgegeben, und statt desssen als die allein zulässige Form der unmittelbaren d. h. nicht durch Abstammung, Legitimation oder Verheirathung stattfindenden Erwerbung des Indigenats ausschließlich die Verleihung durch die kompetente Staatsbehörde und die der Verleihung gleichstehende Anstellung im öffentlichen Dienste anerkannt.

5. Bezüglich der Indigenatsverleihung ist ein Unterschied gemacht zwischen Personen, welche bereits einem deutschen Staate angehören und zwischen Ausländern. Die ersteren haben in der Regel ein Recht, ie Indigenatsverleihung (Aufnahme) in demjenigen Bundessstaate, in welchem sie sich niederlassen, zu verlangen; die Souveränität der Einzelstaaten ist also in dieser Hinsicht beschränkt, und sie sind insbesondere nicht befugt, die Ertheilung der Aufnahme von der vorherigen Erwerbung der Heimat abhängig zu machen; die durch das Freizügigkeitsgesetz von 1867 statuirte „sociale Freizügigkeit ist, wie sich der hessische Bundesrathsbevollmächtigte ausdrückte (Stenogr. Bericht 1870 S. 82) zur politischen Freizügigkeit erweitert.“

Die Indigenatsverleihung an Ausländer (Naturalisation) dagegen ist dem Ermessen der Einzelregierungen anheim gegeben ; sie können dieselbe von jeder beliebigen Bedingung, also auch von der Erwerbung der Heimath abhängig machen, und sind nur insoferne gebunden, als die Naturalisation nicht stattfinden soll, wenn die in § 8 des Gesetzes bezeichneten Voraussetzungen im einzelnen Falle nicht gegeben sind.

6. Der Besitz des Indigenats bildet keine Voraussetzung der Zulassung zu öffentlichen Aemtern, sondern die Anstellung hat den Erwerb der Staatsangehörigkeit zur unmittelbaren Folge.

7. Durch das Gesetz ist der gleichzeitige Besitz des Indigenats mehrerer Staaten nicht ausgeschlossen.

8. Staatsangehörigen, welche die Aufnahme in einem anderen Bundesstaate erlangt haben, darf die Entlassung in keinem Falle verweigert werden. Außerdem ist das Recht der Auswanderung in Friedenszeiten nur durch Rücksichten auf die Erfüllung bestimmter öffentlicher Dienstpflichten beschränkt (§ 17 des Ges.).

9. Deutsche, welche sich im Auslande aufhalten, können, wenn sie in Kriegszeiten der Aufforderung zur Rückkehr nicht Folge leisten, durch Ausspruch der Centralbehörde ihres Heimatstaates der Bundes und Staatsangehörigkeit für verlustig erklärt werden.

10. Die Bundes- und Staatsangehörigkeit geht ferner unter den in § 21 des Gesetzes erwähnten Voraussetzungen durch 10jährigen ununterbrochenen Aufenthalt im Auslande verloren.

11. Außerdem kann der Verlust derselben ausgesprochen werden wegen ungerechtfertigten Verbleibens im ausländischen Staatsdienste.

12. Die Aufnahme eines Bundesangehörigen, sowie die Ertheilung der Entlassungsurkunde an die in einem anderen Bundesstaate aufgenommenen Personen hat kostenfrei zu erfolgen; für sonstige Entlassungsurkunden darf nicht mehr als Ein Thaler erhoben werden.

IV. Was Bayern insbesondere betrifft, so gilt auch hier das Reichsgesetz vom 1. Juni 1870 in seinem vollen Umfange, und es besteht demgemäß auch zwischen Bayern und den übrigen deutschen Staaten die politische Freizügigkeit in dem oben sub Ziff. 5 angedeuteten Sinne.

Die Rückwirkungen des Gesetzes über die Bundes- und Staatsangehörigkeit auf die bayr. Gesetzgebung sind ziemlich bedeutend. Namentlich werden berührt:

1. der § 4 Tit. IV der bayr. Verfassungsurkunde und die fast gleichlautende Bestimmung in § 7 der ersten Verfassungsbeilage, wonach öffentliche Aemter etc. nur an Eingeborne oder verfassungsmäßig Naturalisirte ertheilt werden dürfen, durch § 9 des Gesetzes vom 1. Juni 1870;

2. die Bestimmungen in § 2-6 der I. Verf.-Beil., welche von der Erwerbung und dem Verluste des bayr. Indigenats handeln, durch § 2 ff. und § 13 ff. des Ges. vom 1. Juni 1870;

3. der § 14 Tit. IV der Verfassung, worin den Bayern gestattet ist, in einem anderen Bundesstaat, welcher erweislich sie zu Unterthanen annehmen will, auszuwandern durch § 7, § 15 Abs. I und § 17 des Gesetzes vom 1. Juni 1870;

4. der § 11 der I. Verf.-Beil. in Verbindung mit dem eben allegirten § 14 Tit. IV der Verfassungsurkunde, insoferne hier der Eintritt bayr. Unterthanen in fremde Dienste geregelt, ist durch § 22 und 23 des Gesetzes vom 1. Juni 1870;

5. der Art. 9 des bayr. Gesetzes über Heimat, Verehelichung und Aufenthalt vom 16. April 1868, wonach der Erwerb des Indigenats von der gleichzeitigen Erwerbung der Heimat in einer bayrischen Gemeinde abhängig gemacht ist, durch § 6 des Gesetzes vom 1. Juni 1871, welcher auf den oben sub Ziff. III, 4 erwähnten Grundgedanken beruht;

6. der Art. 14 der Gemeindeordnung für die Landestheile diess. des Rheins und der Art. 12 der Gemeindeordnung für die Pfalz vom 29. April 1869, worin die Erwerbung des Indigenats mit denjenigen des Bürgerrechts in Verbindung gebracht ist, gleichfalls durch § 6 des des Gesetzes vom 1. Juni 1871;

7. die Art. 10, 73 und 74 des bayr. Wehrverfassungsgesetzes, welche von der Auswanderung Militärpflichtiger handeln, durch § 15 und 17 des Ges. vom 1. Juni 1871.

Außerdem treten selbstverständlich die bayr. Ministerialentschließung vom 2. Februar 1868, die Behandlung der Auswanderungsgesuche betr., ferner die Vorschriften in Ziff. 4 der Ministerialentschließung vom 29. Juni 1868, den Vollzug des Heimatgesetzes betreffend, sowie die Ministerialentschließung vom 27. Mai und 7. Juni 1868 in Betreff der Auswanderung militärpflichtiger (abgedruckt in meinem Kommentare zum Heimatgesetze von 1868 Seite 275, resp. Seite 260 und 279 ff.) außer Wirksamkeit.

[1] [ abgelöst durch das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22. Juli 1913. ]

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