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Reichsverfassungsurkunde

vom 16. April 1871 und die wichtigsten Administrativgesetze des deutschen Reichs mit einer systematischen Darstellung der Grundzüge des deutschen Verfassungsrechts.
Herausgegeben und erläutert von Emil Riedel im Verlag C.H. Beck, Nördlingen 1871.

Dritte Abtheilung. III. Abschnitt. Gesetz über die Freizügigkeit vom 1. November 1867.
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Gesetz über die Freizügigkeit vom 1. November 1867.

(Bundesgesetzbl. S. 55, Beil. zum bayr. Gesetzbl. 1870/71 S. 13 ff.)

Wir, Wilhelm, von Gottes Gnaden, König von Preußen, etc. verordnen im Namen des Norddeutschen Bundes, nach erfolgter Zustimmung des Bundesraths und des Reichstages, was folgt:

§ 1.1)

Jeder Bundesangehörige2) hat das Recht, innerhalb des Bundesgebietes:3)

1) an jedem Orte sich aufzuhalten oder niederzulassen,4) wo er eine eigene Wohnung oder ein Unterkommen sich zu verschaffen im Stande ist;5)

2) an jedem Orte Grundeigenthum aller Art zu erwerben;

3) umherziehend oder an dem Orte des Aufenthalts, beziehungsweise der Niederlassung, Gewerbe aller Art zu betreiben, unter den für Einheimische6) geltenden gesetzlichen Bestimmungen.

In der Ausübung dieser Befugnisse darf der Bundesangehörige, soweit nicht das gegenwärtige Gesetz Ausnahmen zuläßt, weder durch die Obrigkeit seiner Heimat, noch durch die Obrigkeit des Ortes, in welchem er sich aufhalten oder niederlassen will, gehindert7) oder durch lästige Bedingungen8) beschränkt werden.

Keinem Bundesangehörigen darf um des Glaubensbekenntnisses9) willen oder wegen fehlender Landes-10) oder Gemeindeangehörigkeit der Aufenthalt, die Niederlassung, der Gewerbebetrieb oder der Erwerb von Grundeigenthum verweigert werden.

1) Der Grundsatz voller Aufenthaltsfreiheit ist zwar auch in Artikel 43 Abs. I des bayr. Gesetzes über Heimat, Verehelichung und Aufenthalt vom 16. April 1868 ausgesprochen, für die Folge ist aber gleichwohl in den einzelnen Fällen statt des Art. 43 Abs. I lediglich der § 1 des deutschen Freizügigkeitsgesetzes anzuwenden.

2) Das Gesetz bezieht sich nur auf Bundesangehörige, sohin nach dem Reichsgesetze vom 1. Juni 1870, die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit betr. nur auf solche Personen,welche in irgend einem deutschen Staate das Indigenat besitzen.

Das Aufenthaltsrecht der Ausländer, sowie derjenigen Personen, deren Staatsangehörigkeit nicht ermittelt werden kann, ist nach den Landesgesetzen zu bemessen; was Bayern insbesondere betrifft, so verbleibt es in diesen Beziehungen bei den Bestimmungen in Art. 43 Abs. II und Artikel 50 des in Note 1 erwähnten Gesetzes vom 16. April 1868.

In beiden Artikeln ist auch den Ausländern ein nicht willkührlich entziehbares Aufenthaltsrecht in Bayern eingeräumt; vergl. meinen Kommentar zum bayr. Heimatgesetze von 1868, Art. 50 Note 1.

Daß Bundesangehörige in keinem Falle wie Ausländer behandelt werden dürfen, ergiebt sich sowohl aus Art. 3 der Reichsverfassung, als aus dem in § 1 des Freizügigkeitsgesetzes gewählten Ausdrucke : „jeder Bundesangehörige.“

3) Die im Freizügigkeitsgesetze den Bundesangehörigen eingeräumten Rechte erstrecken sich sohin auf das Gebiet aller Bundesstaaten.

4) Der Gesetzentwurf enthielt lediglich den Ausdruck „sich dauernd aufzuhalten“ ; da jedoch Zweifel bestanden, ob hienach auch das Recht einen vorübergehenden Aufenthalt zu nehmen, gewährleistet sei, so wurde die nunmehrige Fassung „sich aufzuhalten oder niederzulassen“ gewählt.

5) a. Nach einem in der 3. Auflage des Staatsrechtes für die preußische Monarchie von Dr. v. Rönne I. Bd. 2. Abthlg. S. 52 Note 4 erwähnten preußischen Ministerialrescripte vom 31. August 1868 ist die Polizeibehörde nicht befugt und verpflichtet, die Art und Weise des Unterkommens zu prüfen und darüber zu befinden, ob dasselbe ein reelles und für den Unterhalt des Betreffenden ausreichendes sei; es kommt lediglich darauf an, ob der Anziehende eine Wohnung oder ein Unterkommen besitzt und es ist unter lezterem nicht ein besonders nachzuweisendes reelles Erwerbsverhältniß zu verstehen, sondern es hat nur ausgedrückt werden sollen, daß schon ein „Unterkommen“ z. B. eine Schlafstelle, welche als eigene Wohnung nicht angesetzen werden kann, genügen soll, um den Anziehenden gegen seine Ausweisung zu schützen.“ - In ähnlicher Weise ist der Ausdruck „Unterkommen“ auch in Ziff. 3 der im Anhange dieses Abschnitts abgedruckten. bayrischen Vollzugsentschließung vom 4. Mai 1868 erläutert, was um so nothwendiger war, als der Ausdruck „Unterkommen“ in Bayern gewöhnlich eine andere auf die Subsistenzverhältnisse bezügliche Bedeutung hat.

b. Da die Möglichkeit, sich eine eigene Wohnung oder ein Unterkommen zu verschaffen eine Voraussetzung des Aufenthaltsrechts bildet, so muß dieselbe auf Verlangen der Polizeibehörde nachgewiesen werden; selbstverständlich ist aber ein solches Verlangen nur bei besonderem Anlasse zu stellen.

6) Das Freizügigkeitsgesetz befaßt sich nicht mit den allgemeinen Voraussetzungen der Zulassung zum Gewerbebetriebe, sondern wiederholt nur die in Art. 3 der Reichsverfassung und Art. 26 des Zollvereinsvertrags vom 8. Juli 1867 ausgedrückten Grundgedanken in etwas erweiterter Form; demgemäß kann der Deutsche auf Grund des Freizügigkeitsgesetzes lediglich verlangen, daß er in Ansehung des Gewerbebetriebes nicht schlechter gestellt werde, als ein Angehöriger des betreffenden Staates oder Ortes. Wenn für die Angehörigen eines Staates zur Ausübung eines Erwerbszweiges bestimmte Vorbedingungen nothiwendig erklärt sind, was z. B. sowohl nach der norddeutschen als nach der bayrischen Gewerbeordnung bezüglich des Haussirhandels der Fall ist, so muß auch der Angehörige eines anderen Bundesstaates diesen speciellen Vorbedingungen genügen, jedoch ist jeder Staat gehalten, jeden Deutschen zur Erfüllung dieser Vorbedingungen zuzulassen. Aehnlich verhält es sich zur Zeit noch mit der Ausübung des ärztlichen Berufs; hiezu ist nach der norddeutschen Gewerbeordnung der Besitz einer nach Maßgabe der letzteren erlangten Approbation, nach den bayrischen Medicinalverordnungen aber das Bestehen einer Staatsprüfung erforderlich; ein Bayer kann dem nach nur verlangen, daß er in Norddeutschland zur Erfüllung der für die Approbation vorgeschriebenen Voraussetzungen zugelassen werde, und ebenso kann ein Norddeutscher in Bayern lediglich die Zulassung zur medicinischen Staatsprüfung beanspruchen; das Recht zur Ausübung der Praxis aber wird, insoferne nicht eine Dispensation stattfindet, in dem einen, wie in dem anderen Falle erst erlangt, wenn den speciellen Landesvorschriften Genüge geleistet wurde.

7) Das Gesetz will die aus der Freizügigkeit fließenden Rechte dem willkürlichen Ermessen der Polizeibehörden entrücken; dem Bundesangehörigen darf sohin weder die Wahl eines Aufenthaltsortes im Voraus verboten , noch der einmal gewählte Aufenthalt entzogen werden. Eine Ausnahme von diesem Grundsatze soll nur auf Grund der im Freizügigkeitsgesetze selbst enthaltenen Bestimmungen in specie der §§ 3-5 stattfinden dürfen; es lassen sich aber auch, wie bereits oben in der Vorbemerkung erwähnt, andere im Gesetze nicht speziell vorbehaltene Aufenthaltsbeschränkungen denken, über deren Fortdauer kaum ein Zweifel bestehen kann, da sie einen ganz anderen Zweck, als die Schmälerung des Freizügigkeitsrechtes verfolgen und deßhalb auch nicht wohl in den Bereich des Freizügigkeitsgesetzes fallen. Hieher gehören alle auf Grund der Straf- und Disciplinarstraf-Gesetze verfügten Freiheitsstrafen, ferner die Fälle gesetzlicher Inhaftirung, sodann die momentanen Aufenthaltsbeschränkungen, welche sich aus der Anwendung gesetzlicher Zwangsmittel ergeben, z. B. die Fälle der Realcitation, der zwangsweisen Vorführung, Heimlieferung und dergl. ; außerdem gehören hieher die aus einem öffentlichen Dienstverhältnisse und der Erfüllung der Militärpflicht entspringenden, sowie die nach den Civil- und Civilprozetzgesetzen zulässigen Aufenthaltsbeschränkungen; endlich sind zu erwähnen die im Gesetze über das Paßwesen vom 12. Oktober 1867 ausdrücklich vorbehaltenen Bestimmungen über Zwangspässe und Reiserouten, vergl. hiezu meinen Kommentar zum bayr. Heimatgesetze S. 218 und 219.

8) Durch den Ausdruck „lästige Bedingungen“ *) sollten vorzugsweise die Aufenthaltsgebühren, sowie die für einzelne Klassen von Personen besonders bestehenden, mit der Aufenthalts- und Erwerbsfreiheit nicht vereinbarlichen Auflagen und Beschränkungen getroffen werden, z. B. die sogenannten Judenschutzgelder, die Recognitionsgebühren für auswärts wohnende Gemeindeangehörige, dann die Bestimmungen, wodurch den Israeliten der Aufenthalt oder die Niederlassung in gewissen Gemeinden verboten war. Alle diese unzeitgemäßen Beschränkungen der persönlichen Freiheit, welche übrigens auch in Bayern nicht mehr bestanden, sind durch das Freizügigkeitsgesetz beseitigt; dagegen wird die Verbindlichkeit zur Entrichtung von Taxen für den Erwerb von Grundstücken, dann von Steuern und indirekten Auflagen selbstverständlich durch das Freizügigkeitsgesetz nicht berührt.

*) Zu derartigen lästigen Bedingungen wird auch das hie und da bestehende Verbot, Gehalte und Pensionen außerhalb des Heimatstaates zu verzehren, gerechnet werden müssen; es wird daher, soweit es sich um den Aufenthalt in einem anderen deutschen Staate handelt, cessiren.

9) Die im letzten Absatze des § 1 enthaltene Vorschrift ist an sich nur eine Schlußfolgerung aus dem übrigen Inhalte des Paragraphen; sie wurde aber ausdrücklich aufgenommen , um die Gleichberechtigung der Konfessionen in allen diesen Beziehungen außer Zweifel zu stellen; vergl. hiezu das im IV. Abschnitte dieser Abtheilung enthaltene Gesetz über die Gleichberechtigung der Konfessionen vom 3. Juli 1869, in specie die Vorbemerkung Ziff. I.

10) Wenn das Gesetz hier von Landesangehörigkeit spricht, so meint es nur die Angehörigkeit in dem speciellen Staate, in welchem in concreto die Freizügigkeitsrechte geltend gemacht werden wollen; irgend einem deutschen Staate muß die betreffende Person aber angehören, da sie außerdem das Bundesindigenat nicht besitzen würde; cf. oben Note 2.

§ 2.

Wer die aus der Bundesangehörigkeit folgenden Befugnisse in Anspruch nimmt, hat auf Verlangen1) den Nachweis seiner Bundesangehörigkeit2) und, sofern er unselbstständig3) ist, den Nachweis der Genehmigung desjenigen, unter dessen (väterlicher, vormundschaftlicher oder ehelicher) Gewalt er steht, zu erbringen.

1) Berechtigt, das Verlangen zu stellen, sind offenbar nur diejenigen Behörden, welchen im concreten Falle die An- oder Aberkennung der aus der Bundesangehörigkeit fließenden Rechte zusteht; also in der Regel die Polizei- oder Gemeindebehörden. *)

Es ist ferner klar, daß ein derartiges Verlangen nur dann gestellt wird, wenn ein specieller Anlaß vorliegt, die auf Grund der Bundesangehörigkeit beanspruchten Rechte in Kontestation zu ziehen, denn man würde den Principien des Paßgesetzes, wie denjenigen des Freizügigkeitsgesetzes geradezu ins Gesicht schlagen, wenn man von jedem Deutschen bei jeder beliebigen Gelegenheit einen Nachweis über seine Bundesangehörigkeit fordern wollte.

*) Ueber die Verpflichtung der Notare, sich bezüglich der Bundesangehörigkeit zu vergewissern, siehe Dr. Staudinger I. c. S. 28.

2) Der Nachweis der Bundesangehörigkeit wird am zweckmäßigsten durch einen Heimatschein geliefert werden. Nachdem jedoch das Freizügigkeitsgesetz in dieser Hinsicht keine speciellen Vorschriften enthält, so erscheint jedes Beweismittel, durch welches der Besitz der Bundesangehörigkeit in glaubhafter Weise dargethan werden kann, als zulässig.

3) Die Frage, ob eine Person unselbstständig sei, wird in der Regel nach den Gesetzen desjenigen Staates, in welchem der Betreffende seinen Wohnsitz hat, zu beurtheilen sein. Was speciell Bayern betrifft, so kommt hier außer den Civilgesetzen über die Unterordnung der Ehefrauen und Kinder namentlich die, auch in den bayrischen Gemeindeordnungen enthaltene Bestimmung in Art. 6 Abs. II des Gesetzes über Heimat, Verehelichung und Aufenthalt vom 16. April 1868 in Betracht, welche lautet:
„Als selbstständig sind nicht zu erachten:
1. Personen, welche auf Grund richterlicher Verfügung unter Curatel stehen,
2. Dienstboten, Gewerbsgehilfen und Haussöhne, welche im Brode des Dienstherrn oder Familienhauptes stehen und keine eigene Wohnung haben. “

Da diese Bestimmung zunächst nur in Bezug auf den Heimats- und Bürgerrechtserwerb gegeben ist, so kann sie für die Inanspruchnahme und Beurtheilung der im Freizügigkeitsgesetze gewährleisteten Rechte nicht maßgebend sein und es kommt daher bei Beurtheilung der Selbstständigkeit im Sinne des § 3 des Freizügigkeitsgesetzes nicht darauf an, ob der Betreffende in fremdem Brode steht und eine eigene Wohnung hat, sondern lediglich darauf, ob und in wie weit er der Gewalt eines Dritten unterworfen und wie weit dieser Dritte gesetzlich befugt ist, ihn in der freien Disposition über seinen Aufenthalt zu beschränken.

Die Bestimmungen in Art. 45 Ziff. 9 u. 10 des bayr. Heimatgesetzes sind durch § 3 des Freizügigkeitsgessehes surrogirt.

§ 3.

Insoweit bestrafte1) Personen nach den Landesgesetzen Aufenthaltsbeschränkungen durch die Polizeibehörde2) unterworfen werden können, behält es dabei sein Bewenden.3)

Solchen Personen, welche derartigen Aufenthaltsbeschränkungen in einem Bundesstaate unterliegen, oder welche in einem Bundesstaate innerhalb der letzten zwölf Monate wegen wiederholten Bettelns oder wegen wiederholter Landstreicherei bestraft worden sind, kann der Aufenthalt4) in jedem anderen5) Bundesstaate von der Landespolizeibehörde6) verweigert werden.7)

Die besonderen Gesetze und Privilegien einzelner Ortschaften und Bezirke, welche Aufenthaltsbeschränkungen gestatten, werden hiermit aufgehoben.

1) Das Gesetz hat offenbar zwei Kategorien von Fällen im Auge, nämlich

a. diejenigen Fälle, in denen die Polizeibehörden durch richterliches Urtheil ermächtigt werden, gegen eine bestimmte Person Aufenthaltsbeschränkungen vorzukehren, in specie die Fälle der Polizeiaufsicht und Landesverweisung, und

b. diejenigen Fälle, in welchen die Thatsache der Bestrafung an sich und ohne weiteren Richterspruch genügt, polizeiliche Aufenthaltsbeschränkungen gegen den Bestraften eintreten zu lassen.

Von einer Seite (Sten. Ber. des nordd. Reichstags von 1869 S. 1332) wurde zwar behauptet, daß man im Jahre 1867 der Meinung gewesen sei, „nur in den Fällen, in welchen der Richter auf Stellung unter Polizeiaufsicht erkennt, werde es fortan noch gestattet sein, die Ausweisung anzuordnen“ ; allein diese Meinung ist offenbar im Gesetze nicht zum entsprechenden Ausdrucke gelangt, denn dasselbe spricht, ohne irgend welche Entscheidung zu treffen, nur von bestraften Personen, und die Motive lassen unzweifelhaft erkennen, daß man eine so weit gehende Einschränkung der polizeilichen Befugnisse nicht beabsichtigt hatte. *)

Dagegen unterliegt es keinem Zweifel; daß die Behörden nicht mehr berechtigt sind, bloß mit Rücksicht auf den Leumund oder sonst willkührlich eine Aufenthaltsbeschränkung zu verfügen, sondern, daß Ausweisungen nur gegen bestrafte Personen und in den durch Landesgesetz speciell bezeichneten Fällen zulässig sind.

Für Bayern ergiebt sich hieraus:

ad a. daß an den Befugnissen der Polizeibehörden gegenüber den unter Polizeiaufsicht gestellten Personen durch das Freizügigkeitsgesetz **) nichts geändert ist,

ad b. daß die Bestimmungen in Art. 45 Ziff. 5 u. 6, dann bei deren Vollzug Art. 46 u.47 Abs. 1 des bayr. Heimatsges. v. 16. April 1868 aufrecht bleiben, während die Vorschriften in Art. 45 Ziff. 7 u. 8 ibidem soweit die Ausweisung von Bundesangehörigen in Frage steht, nicht mehr anwendbar sind, da in diesen Stellen die Ausweisung von einer vorausgegangenen Bestrafung nicht abhängig gemacht ist.

Ueber die Kontroverse, welche in Preußen bezüglich der ferneren Anwendbarkeit des preußischen Gesetzes vom 31. Dezember 1842 § 1 Nr. 1 und 2 besteht, siehe das Staatsrecht der preußischen Monarchie von Rönne III. Aufl. 1870 § 90 Bd. I Abthlg. Il S. 58 ff., dann die Stenogr. Berichte des Reichstags 1869 S. 1332 ff., endlich Dr. Staudinger I. c. S. 22 ff.

*) Die bezügliche Stelle der Motive lautet: „Sowohl in Preußen als in anderen Bundesstaaten bestehen gesetzliche Bestimmungen, wonach den wegen gewisser Verbrechen oder zu gewissen Strafen verurtheilten Personen (insbesondere dann, wenn auf Stellung unter Polizeiaufsicht erkannt wird) Aufentheltsbeschränkungen durch die Polizei auferlegt werden können. Es versteht sich von selbst, daß diese Bestimmungen durch das Prinzip der Freizligigkeit nicht aufgehoben werden sollen, wie sie denn auch gerade in Preußen neben der durch das Gesetz von 1842 gewährten Freizügigkeit aufrecht erhalten sind.“

**) Da die Materie der Polizeiaufsicht im deutschen Strafgesetzbuche neu geregelt ist, so werden sich vom 1. Januar 1872 an in Bayern auch in dieser Hinsicht einige Aenderungen bezüglich der Ausweisungsbefugnisse ergeben; vergl. hierüber Dr. Staudinger I. c. S. 18 ff.

2) Da das Reichsgesetz, abgesehen von den Fällen des § 3 AbsatzII keine Kompetenzbestimmungen enthält, so verbleibt es bei den landesgesetzlichen Vorschriften, in Bayern bei Art. 51 und 52 des Gesetzes vom 16. April 1868.

3) Der § 3 des Freizügigkeitsgesetzes beläßt es einfach bei den bestehenden Landesgesetzen; neue Beschränkungen der Freizügigkeit können wie bereits oben bemerkt, in Hinblick auf §5 des Einführungsgesetzes zum deutschen Strafgesetzbuche vom 31. Mai1870 und die hiezu gepflogenen Reichstagsverhandlungen (Stenogr. Ber. Bd. 2 S. 776) jenes Einführungsgesetzes zulässig, die in Kraft bleibenden Landesgesetze mit dem Strafgesetzbuche in Einklang zu bringen.

4) Landesverweisungen gegen Bundesangehörige sind für die Folge in der Regel. ausgeschlossen, da das Reich E i n Freizügigkeitsgebiet bildet. Die Bestimmung in § 3 Abs.II ist sonach eine exceptionelle.

Das Gesetz unterscheidet hiebei zwei Kategorien; zur ersteren gehören alle diejenigen Personen, gegen welche auf Grund eines Landesgesetz es eine Aufenthaltsbeschränkung besteht, unter die zweite Kategorie dagegen fallen die Bettler und Landstreicher, welche in irgend einem Bundesstaate binnen Jahresfrist wiederholt bestraft wurden. Gegen die letzteren kann mit Landesverweisung vorgegangen werden, auch wenn die Behörden desjenigen Staates, in welchem die wiederholte Bestrafung stattfand, keine Aufenthaltsbeschränkung verfügt haben.

Für Bayern kommt hiebei in Betracht, daß die Ausweisung eines Bettlers und Landstreichers aus einem Gemeindebezirke nach Art. 45 Ziff. 5 des bayr. Gesetzes vom 16. April 1868 schon dann erfolgen kann, wenn der Betreffende einmal bestraft wurde, und es entsteht daher die Frage, ob nicht mit Rücksicht auf eine derartige landesgesetzlich verfügte Aufenthaltsbeschränkung schon nach einmaliger Bestrafung wegen Bettels die Landesverweisung verfügt werden könnte. Nach dem Wortlaute des § 3 Abs. II wäre diese Frage zu bejahen, da derselbe die Anschauung zuläßt, daß die reichsgesetzliche Vorschrift bezüglich der Bettler und Landstreicher nur dann Platz greift, wenn gegen derartige Personen nicht bereits auf Grund der Landesgesetze Aufenthaltsbeschränkungen verfügt wurden. Andererseits ist aber zu berücksichtigen, daß eine derartige Praxis kaum den Intentionen des Freizügigkeitsgesetzes entspricht und es ist daher, da eine gegentheilige Interpretation möglich erscheint, jedenfalls vorzuziehen, gegen Bettler und Landstreicher nur nach wiederholter Bestrafung die Landesverweisung vorzukehren.

5) Unter dem Ausdrucke „anderer Staat“ sind offenbar diejenigen Staaten begriffen, in welchen die betreffende Person keinen Unterstützungswohnsittz resp. keine Heimath besitzt. Da nach dem nordd. Unterstütungswohnsitzgesetze der Unterstützungswohnsitz vom Besitze des Landesindigenats unabhängig ist, so kann eine Person möglicherweise aus ihrem engeren Heimatstaate ausgewiesen werden, wogegen sie derjenige Staat, in welchem sie zwar den Unterstützungswohnsitz aber kein Indigenat besitzt, aufnehmen resp. behalten muss.

6) Die in Bayern zur erstinstanziellen Verfügung von Landesverweisungen gegen Bundesangehörige zuständigen Behörden sind die Kreisregierungen, Kammern des Innern; vergl. hiezu die Motive zu § 2 des Gesetzes vom 22. April 1871 , die Einführung norddeutscher Gesetze in Bayern betr. Ortsverweisungen gegen Bundesangehörige, sowie Landesverweisungen gegen Ausländer sind in Bayern auch fernerhin von den betreffenden Distriktspolizeibehörden zu verfügen.

7) Die Landesverweisungen sind durch das Reichsgesetz zeitlich nicht begrenzt; die Dauer derselben wird jedoch in einen bestimmten Zusammenhang mit der Dauer der nach den Landesgesetzen verfügten Aufenthaltsbeschränkungen gebracht werden müssen ; ferner wird anzunehmen sein, daß Bettlern und Landstreichern der Aufenthalt in einem anderen Bundesstaate nur verweigert werden kann, wenn sie innerhalb des dem Ausweisungsbeschlusse unmittelbar vorangehenden Jahres zweimal bestraft wurden; es wird daher nach Ablauf eines Jahres auch deren Rückkehr nicht zu beanstanden sein; vergl. hiezu die Motive zum Staatsangehörigkeitsgesetz vom 1. Juni 1870 (Anlag. zu den Sten. Ber. S. 158 Ziff. 2.).

§ 4.1)

Die Gemeinde ist zur Abweisung eines neu Anziehenden nur dann befugt,2) wenn sie nachweisen3) kann, daß derselbe nicht hinreichende Kräfte besitzt, um sich und seinen nicht arbeitsfähigen Angehörigen den nothdürftigen Lebensunterhalt zu verschaffen, und wenn er solchen weder aus eigenem Vermögen4) bestreiten kann, noch von einem dazu verpflichteten Verwandten erhält.

Den Landesgesetzen bleibt vorbehalten, diese Befugniß der Gemeinden zu beschränken.5)

Die Besorgniß vor künftiger Verarmung berechtigt den Gemeindevorstand nicht zur Zurückweisung.

1) Die Bestimmungen in § 4 und 5 des Freizügigkeitsgesetzes haben den Zweck, die Interessen der Gemeinden gegenüber Nichtheimatberechtigten (Ortsfremden im Sinne der bayr. Gesetzgebung) zu wahren.

Dies geschieht dadurch, daß den Gemeinden das Recht eingeräumt ist, entweder dem Neuanziehenden sofort bei seinem Einzuge den Aufenthalt zu untersagen, oder später auf dessen Ausweisung zu dringen. Die Voraussetzungen, unter denen das erstere statthaft ist (§ 4), sind verschieden von den Gründen, aus denen später die Ausweisung erfolgen darf. - In beiden Fällen geschieht jedoch die Aufenthaltsbeschränkung nicht aus höheren staatspolizeilichen Gründen und eben deßhalb nicht ex oflicio, sondern nur auf Antrag der betreffenden Gemeinde.

Aus dem Zwecke der §§ 4 und 5 ergiebt sich, daß die Versagung des Aufenthaltes auf Antrag der betheiligten Gemeinde stattfinden muß, wenn die im Gesetze angeführten Voraussetzungen erwiesen worden sind.

Zur Stellung solcher Anträge sind in Bayern in Gemeinden mit städtischer Verfassung die Magistrate, in den übrigen Gemeinden die Gemeinderäthe resp. Gemeindeausschüsse berufen.

2) Nach den in Bayern bestehenden Kompetenzverhältnissen können nur die einer Kreisregierung unmittelbar untergeordneten Magistrate mit Ausnahme des Magistrats von München die Abweisung eines Neuanziehenden in eigener Zuständigkeit verfügen; in München werden derartige Verfügungen auf Antrag des Magistrates von der k. Polizeidirektion getroffen, und die übrigen Gemeinden haben sich an das ihnen vorgesetzte Bezirksamt zu wenden. Beabsichtigt eine Gemeinde von der ihr in § 4 des Freizügigkeitsgesetzes eingeräumten Befugniß Gebrauch zu machen, so hat sie dieß sofort beim Beginne des Aufenthaltes des Betreffenden zu thun, da außerdem die Bestimmungen des § 5 Platz greifen.

3) a. Der den Gemeinden obliegende Nachweis erstreckt sich lediglich darauf, daß der Neuanziehende nicht hinreichende Kräfte besitzt, um sich und seine nichtarbeitsfähigen Angehörigen nothdürftig zu ernähren; dem Betreffenden ist dagegen überlassen, seinerseits nachzuweisen, daß er die erforderlichen Unterhaltsmittel entweder selbst besitzt, oder von alimentationspflichtigen Verwandten erhält. Darauf, ob der Neuanziehende früher irgendwo Armenunterstützung bezogen hat, kommt es in den Fällen des § 4 nicht an, sondern es entscheidet lediglich der zur Zeit des Einzugs bestehende Mangel an hinreichenden Kräften und Mitteln. Bei der Beurtheilung der Frage, ob ein solcher Mangel gegeben sei, wird jedoch der Umstand, daß sich die betreffende Person schon früher nicht ernähren konnte, von wesentlichem Einfluße sein.

b. Es ist klar, daß die Gemeinde den Antrag auf Abweisung eines Neuanziehenden substanziren d. h. sofort mit den entsprechenden Thatsachen begründen muß. Bei der Beweiserhebung haben die bayrischen Behörden im Hinblick auf die für das Verfahren in Administrativsachen bestehenden Normen auch die von der antragstellenden Gemeinde nicht direkt beigebrachten, aber sonst zur amtlichen Kenntniß gelangten Beweisbehelfe mit in Betracht zu ziehen. - Eines weitwendigen Beweises bedarf es überhaupt nicht, wenn der Anziehende nicht nachweisen kann, daß er sich eine eigene Wohnung oder ein Unterkommen zu verschaffen im Stande ist (§ 1 Ziff. 1- des Gesetzes).

4) Das Vermögen wird als hinreichend zu erachten sein, wenn es zur Bestreitung des Lebensunterhaltes für die nächste Zeit genügt, da die Besorgniß vor künftiger Verarmung nach § 4 Abs. II des Gesetzes nicht zur Zurückweisung berechtigt.

5) In Art. 45 Ziff. 2 des bayrischen Heimatgesetzes ist zwar unter allen Umständen die Inanspruchnahme oder der Bezug einer öffentlichen Armenunterstützung als Voraussetzung der Ausweisung statuirt; nachdem sich jedoch diese Stelle nur auf Personen bezieht, welche in die Gemeinde bereits eingezogen sind, so wird der Schlußsatz des § 4 Abs. I hierauf keine Anwendung finden.

§ 5.

Offenbart sich nachdem Anzuge1) die Nothwendigkeit einer öffentlichen Unterstützung, bevor der neu Anziehende an dem Aufenthaltsorte einen Unterstützungswohnsitz (Heimatsrecht) erworben hat, und weist2) die Gemeinde nach, daß die Unterstützung aus anderen Gründen, als wegen einer nur vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit nothwendig geworden ist, so kann die Fortsetzung des Aufenthalts versagt werden.3)

1) Der § 5 enthält, wie bereits oben in Note 1 zu § 4 angedeutet, die Voraussetzungen, unter denen einer bereits längere Zeit in der Gemeinde befindlichen Person die Fortsetzung des Aufenthaltes von Seite der Gemeinde beanstandet werden kann. Hiebei kommt es auf folgende Punkte an:*)
a. Es muß die Nothwendigkeit einer öffentlichen Unterstützung eingetreten sein; ob der Betreffende die Unterstützung nachgesucht oder aus anderen Gründen erhalten hat, ist gleichgiltig, und ebenso wenig wird es darauf anzukommen haben, ob die Untersstützung dem Familienhaupte unmittelbar verabreicht wurde oder einem Familiengliede, für welches dasselbe zu sorgen hat. Was unter öffentlicher Unterstützung zu verstehen, richtet sich nach den Gesetzen oder der Verwaltungspraxis des betreffenden Staates, in Bayern nach dem Gesetze über öffentliche Armen- und Krankenpflege vom 29. April 1869; vergleiche hiezu meinen Kommentar zum bayr. Armengesetzge S. 106 und 196.
b. Der Betreffende darf noch keinen Unterstützungswohnsitz, in Bayern keine definitive oder provisorische Heimat oder kein Bürgerrecht in der Gemeinde besitzen. Der Begriff des Untersstützungswohnsitzes bemißt sich nach dem (in Bayern, Württemberg und Baden nicht eingeführten) norddeutschen Unterstütungswohnsitzgesetze vom 6. Juni 1870; der Heimaterwerb in Bayern ist nach dem Heimatgesetze v. 16. April 1868 zu beurtheilen. **)
c. Die Gemeinde muß nachweisen, daß die öffentliche Unterstützung nicht bloß wegen einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit nothwendig geworden ist. Es müsssen somit Gründe vorhanden sein, welche schließen lasen, daß die Unterstützungsbedürftigkeit längere Zeit hindurch dauern werde. Eine solche voraussichtlich länger dauernde Unterstützungs-Bedürftigkeit kann in einer (nicht bloß vorübergehenden) Arbeits- unfähigkeit, | sie kann aber auch in anderen Verhältnissen ihren Grund haben“ (vgl. die Motive 1. c. S. 121).

*) Vergleiche die Motive des Gesetzentw. : Anlage zu den Sten. Ber. S. 121.
**) Die Heimat in einer bayrischen Gemeinde wird erworben:
a) durch Abstammung,
b) durch definitive Anstellung in einem öffentlichen Dienste,
c) durch Verehelichung mit einem in der Gemeinde Heimatberechtigten,
d) mit dem Bürgerrechte,
e) durch Verleihung, welche nach § 5 beziehungsw. 10jährigem Aufenthalte auf Verlangen des Betheiligten geschehen muß,
f) Pfälzer erwerben in einer pfälzischen Gemeinde durch die Abgabe einer einfachen Erklärung die Heimat, welche jedoch von der Gemeinde für unwirksam erklärt werden kann, wenn der Betreffende innerhalb Jahresfrist nach der Erklärungsabgabe einer öffentlichen Unterstützung bedarf. Die Anweisung einer provisorischen Heimat bemißt sich nach Art. 15 ff, des Heimatgesetzes v. 16. April 1868.

2) Vergleiche hiezu § 4 Note 3. b.

3) Zuständig zum Erlasse des Ausweisungsbeschlusses sind in Bayern die oben § 4 Note 2 bezeichneten Behörden. Auf wie lange der Aufenthalt versagt werden kann, ist im Freizügigkeitsgesetze nicht bestimmt. Für Bayern wird die auch der Natur der Sache entsprechende Bestimmung in Art. 45 Ziff. 2 Abs. II des Heimatgesetzes maaßgebend sein, welche lautet: „Will die ausgewiesene Person vor Ablauf von 3 Jahren ihren Aufenthalt wieder in der Gemeinde nehmen, so hat sie den Besitz zureichender Mittel darzuthun.“

§ 6.

Ist in den Fällen, wo die Aufnahme oder die Fortsetzung des Aufenthalts versagt werden darf, die Pflicht zur Uebernahme der Fürsorge zwischen verschiedenen Gemeinden eines und desselben Bundesstaates streitig, so erfolgt die Entscheidung nach den Landesgesetzen.1)

Die thatsächliche Ausweisung aus einem Orte darf niemals erfolgen, bevor nicht entweder die Annahme-Erklärung der in Anspruch genommenen Gemeinde oder eine wenigstens einstweilen vollstreckbare Entscheidung über die Fürsorgepflicht erfolgt ist.2)

1) Vergleiche hiezu Art. 43 des bayr. Gesetzes über öffentliche Armen- und Krankenpflege vom 29. April 1869 und meinen Kommentar zu diesem Gesetze S. 188 ff.

2) Vergleiche hiezu den Art. 21 des bayr. Heimatgesetzes vom 16. April 1868 und meinen Kommentar hiezu S. 143 ff., dann den Art. 12 des bayr. Armengesetzes vom 29. April 1869 und meinen Kommentar zu dem letzteren Gesetze S. 70 ff.

§ 7.1)

Sind in den in § 5 bezeichneten Fällen verschiedene Bundesstaaten betheiligt, so regelt sich das Verfahren nach dem Vertrage wegen gegenseitiger Verpflichtung zur Uebernahme der Auszu- weisenden d. d. Gotha, den 15. Juli 1851, sowie nach den späteren, zur Ausführung dieses Vertrages getroffenen Verabredungen.2)

Bis zur Uebernahme Seitens des verpflichteten Staates ist der Aufenthaltsstaat zur Fürsorge für den Auszuweisenden am Aufenthaltsorte nach den für die öffentliche Armenpflege in seinem Gebiete gesetzlich bestehenden Grundsäßen verpflichtet. Ein Anspruch auf Ersatz3) der für diesen Zweck verwendeten Kosten findet gegen Staats-, Gemeinde- oder andere öffentliche Kassen desjenigen Staates, welchem der Hilfsbedürftige angehört, sofern nicht anderweitige Verabredungen bestehen, nur insoweit statt, als die Fürsorge für den Auszuweisenden länger als drei Monate4) gedauert hat.

1) Während in § 6 diejenigen Streitigkeiten, welche sich zwischen zwei Armenverbänden eines und desselben Staates über die Armenfürsorgepflicht ergeben, behandelt sind, hat der § 7 die gegenseitigen Beziehungen der einzelnen Bundesstaaten unter sich zum Gegenstande. Diese Beziehungen sind für die Staaten des früheren Nordbundes und Hessen durch das norddeutsche Unterstützungswohnsitzgesetz vom 6. Juni 1870 definitiv geregelt, indem hier in § 10 und 37 ff. bestimmt ist,

a. „daß jeder (Nord-)Deutsche, welcher innerhalb eines Ortsarmenverbandes nach zurückgelegtem vier und zwanzigsten Lebensjahre zwei Jahre lang ununterbrochen seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hat, dadurch in demselben den Unterstützungswohnsitz d. h. den Anspruch auf Unterstützung im Verarmungsfalle erwirbt“, und

b. daß Streitigkeiten über die Armenfürsorgepflicht zwischen Armenverbänden, welche verschiedenen Bundesstaaten angehören, in letzter Instanz durch eine Centralbehörde des Reiches, das Bundesamt für das Heimatwesen (§ 42 ff.) zu entscheiden sind. - Der § 7 des Freizügigkeitsgesetzes wurde daher durch §1 des Unterstützungswohnsitzgesetzes ausdrücklich als für jene Staaten nicht mehr anwendbar erklärt. Für Bayern, und so lange das Untersstützungswohnsitzgesetz in Württemberg und Baden nicht eingeführt ist, auch für diese Staaten ist, wenn Streitigkeiten bezüglich der Uebernahme eines Auszuweisenden entstehen, der Gothaer Vertrag auch fernerhin maaßgebend, und zwar sowohl bei Differenzen der süddeutschen Staaten unter sich als mit norddeutschen Staaten ; vergleiche hiezu oben Art. 3 der Reichsverf. Note 9 u. 11 S. 88 u. 89, dann Ziff. III des bayrischen Schlußprotokolls, und die Motive zu § 2 des Gesetzes vom 22. April 1871, die Einführung norddeutscher Gesetze in Bayern betr.

Der Gothaer Vertrag ist übrigens nicht ganz unverändert geblieben, da in § 7 Abs. II des Freizügigkeitsgesetzes bestimmt ist, daß ein Anspruch auf Ersatz der Kosten, vorbehaltlich besonderer Verabredungen nur insoweit stattfindet, als die Fürsorge für den Auszuweisenden länger als drei Monate gedauert hat.

2) Der Gothaer Vertrag und die hiezu getroffenen späteren Verabredungen sind näher besprochen und abgedruckt in meinem Kommentare zum bayrischen Heimatgesetze vom 16. April 1868 S. 129 ff. und in derselben Weise wie der Gothaer Vertrag wurde auch die sogenannte Eisenacher Uebereinkunft vom 11. Juli 1853 wegen der Verpflegung erkrankter und der Beerdigung verstorbener gegenseitiger Unterthanen aufrecht erhalten; vergl. hiezu meinen Kommentar zum bayrischen Armengesetze S. 79 ff. und S. 241.

3) Ueber den Ersatz der von bayrischen Gemeinden aufgewendeten Kosten siehe die Art. 14 und 15 des bayrischen Armengesetzes und die zu dem letzteren Artikel ergangene Ministerialentschließung vom 6. Aug. 1870, welche S. 270 ff. meines Kommentars zum Armengesetze abgegedruckt ist; in Bezug auf die Kosten für Heimatlose überhaupt siehe die Vollzugsinstruktion zum bayrischen Heimatgesetze vom 29. Juni 1868 Nr. 7745 Ziff. 9, abgedruckt in meinem Kommentar zum Heimatgesetze S.261 ff.

4) Den einzelnen Staaten bleibt natürlich vorbehalten, den Auszuweisenden schon vor Ablauf der drei Monate heimzuliefern, wenn die Uebernahmepflicht bereits früher festgestellt ist.

§ 8.

Die Gemeinde ist nicht befugt, von neu Anziehenden wegen des Anzugs eine Abgabe1) zu erheben. Sie kann dieselben, gleich den übrigen Gemeindeeinwohnern, zu den Gemeindelasten heranziehen. Uebersteigt die Dauer des Aufenthalts nicht den Zeitraum von drei Monaten,2) so sind die neu Anziehenden diesen Lasten3). nicht unterworfen.

1) Die bayrischen Heimatgebühren werden nicht wegen des Einzugs in die Gemeinde, sondern wegen des definitiven Eintritts in den Gemeindeverband, mit welchem regelmäßig verschiedene Nutzungsbefugnisse verbunden sind, erhoben; sie bleiben daher von § 8 des Freizügigkeitsgesetzes unberührt, und zwar um so mehr, als in Bayern Niemand genöthigt werden kann, die Heimat zu erwerben und demgemäß Jedermann in der Lage ist, sich ohne Bezahlung irgend einer Gebühr so lange als er will in einer Gemeinde aufzuhalten und die öffentlichen Gemeindeanstalten zu benützen, sowie überhaupt von dem reichsgesetzlich gewährleisteten Freizügigkeitsrechte Gebrauch zu machen. Die Frage, ob in Bayern fortan von Angehörigen anderer Bundesstaaten keine höheren Heimatgebühren erhoben werden dürfen, als von Angehörigen des bayrischen Staates ist im Wesentlichen gegenstandslos, da der Erwerbung der Heimat die Aufnahme vorausgehen muß und sonach die Heimatverleihung thatsächlich nur an Inländer stattfindet. Deßgleichen findet die Bestimmung in Art. 11 Abs. III, wonach bayrische Staatsangehörige das Heimatrecht unentgeltlich erlangen, wenn sie während voller 10 Jahre in der Gemeinde als Dienstboten, Gewerbsgehilfen, Fabrikarbeiter oder Lohnarbeiter sich ernährt haben und zu einer Freiheitsstrafe nicht verurtheilt worden sind, für die Folge auch auf Angehörige anderer Bundesstaaten Anwendung.

2) Die Lastenfreiheit besteht nur, wenn der Betreffende vor Ablauf von drei Monaten wieder aus der Gemeinde weggezogen ist; verbleibt er über diesen Zeitraum hinaus in der Gemeinde, so ist die Konkurrenzpflicht vom Tage des Einzugs an, d. h. wie der Kommissionsbericht vom 17. Oktober 1867 (Anlagen zu den Sten. Ber. S. 189) sich ausdrückte, ex tune zu berechnen, und der Betreffende hat alsdann die Lasten für die ersten drei Monate nachträglich zu entrichten.

In Bayern entsteht übrigens die Verbindlichkeit zur Entrichtung von Gemeindeumlagen erst dann, wenn der Betreffende mit einer direkten Staatssteuer in der Gemeinde angelegt ist; die Vorschrift in§ 8 des Freizügigkeitsgesetzes wird sohin, da eine solche Veranlagung wohl selten vor drei Monaten erfolgt, auch nicht häufig praktisch werden; vergleiche hiezu das Reichsgesetz über Doppelbesteuerung vom 13. Mai 1870 (Beilage zum bayr. Gesetzbl. Von 1870/71, S. 41 und 42).

3) Es ist natürlich hier nur von direkten Gemeindeauflagen die Rede.

§ 9.1)

Was vorstehend von den Gemeinden bestimmt ist, gilt an denjenigen Orten, wo die Last der öffentlichen Armenpflege verfassungsmäßig nicht der örtlichen Gemeinde, sondern anderen gesetzlich anerkannten Verbänden (Armencommunen) obliegt, auch von diesen, sowie von denjenigen Gutsherrschaften, deren Gutsbezirk sich nicht in einem Gemeindeverbande befindet.

1) Der Paragraph 9 ist für Bayern bedeutungslos, da hier die Armenpflege ausschließend nach dem Verbande der politischen Gemeinden geregelt ist; vergl. hiezu meinen Kommentar zum bayrischen Armengesetze S. 46

§ 10.

Die Vorschriften über die Anmeldung1) der neu Anziehenden bleiben den Landesgesetzen mit der Maaßgabe vorbehalten, daß die unterlassene Meldung nur mit einer Polizeistrafe, niemals aber mit dem Verluste des Aufenthaltsrechts2) (§ 1) geahndet werden darf.

1) Hienach bleibt der Art. 44 des bayrischen Heimatgesetzes vom 16. April 1868 aufrecht ; derselbe lautet:

„Wer sich in einer fremden Gemeinde aufhält, hat binnen 8 Tagen nach der Ankunft hievon der Ortspolizeibehörde, in München der kgl. Polizeidirektion, nach Maßgabe der oberpolizeilichen oder ortspolizeilichen Vorschriften Anzeige zu erstatten. Nichtbeachtung dieser Vorschrift, welche auf die in Art. 48 bezeichneten Personen keine Anwendung findet, wird an Geld bis zu 10 fl. bestraft. Ueber die erfolgte Anzeige hat die Ortspolizeibehörde taxfreie Bescheinigung zu ertheilen, welche den zur Leistung von Krankenkassabeiträgen gesetzlich verpflichteten Personen erst dann behändigt werden soll, wenn sie die erstmalige Bezahlung des treffenden Beitrages nachgewiesen haben.

Die k. Polizeidirektion München ist verpflichtet, von den nach Abs. I ihr erstatteten Anzeigen wenigstens einmal wöchentlich dem Magistrate vollständige Mittheilung zu machen.“

2) Die Bestimmung in Art. 45 Ziff. 1 des bayrischen Heimatgesetzes findet demzufolge gegenüber Bundesangehörigen keine Anwendung mehr; es ist jedoch zu beachten, daß das freie Aufenthaltsrecht nach § 2 des Freizügigkeitsgesetzes nur denjenigen Personen zugesichert ist, welche sich über den Besitz der Bundesangehörigkeit ausweisen ; verweigert eine Person diesen Nachweis, so kann ihr der fernere Aufenthalt versagt, beziehungsweise es kann gegen sie nach den Bestimmungen über Ausländer verfahren werden.

§ 11.1)

Durch den bloßen Aufenthalt oder die bloße Niederlassung, wie sie das gegenwärtige Gesetz gestattet, werden andere Rechtsverhältnisse, namentlich die Gemeindeangehörigkeit, das Ortsbürgerrecht, die Theilnahme an den Gemeindenutzungen und der Armenpflege, nicht begründet.

Wenn jedoch nach den Landesgesetzen durch den Aufenthalt oder die Niederlassung, wenn solche eine bestimmte Zeit hindurch ununterbrochen fortgesetzt worden, das Heimathsrecht (Gemeindeangehörigkeit, Unterstützungswohnsitz) erworben wird,1) behält es dabei sein Bewenden.

1) Das Freizügigkeitsgesetz an sich hat auf die Begründung der Heimat keinen Einfluß. Der Unterstützungswohnsitz kann sohin nach dem Gesetze vom 6. Juni 1870 nur von Angehörigen solcher Staaten erworben werden, in denen das soeben erwähnte Gesetz gilt. Deßgleichen ist die Erwerbung einer Heimat in Bayern von dem Besitze des bayr. Indigenats abhängig; zugleich geht jedoch aus Art. 9 des bayr. Heimatgesetzes hervor, daß den Angehörigen anderer Staaten bei der Erwerbung des Anspruch auf Verleihung der Heimat auch derjenige Aufenthalt zu Gute zu rechnen ist, welchen sie vor der Erlangung des bayrischen Indigenats in der betreffenden Gemeinde zurückgelegt haben. Dieses Verhältniß bleibt gemäß § 11 Abs. II des Freizügigkeitsgesetzes aufrecht, und es kann daher z. B. ein Preuße, welcher in dieser Eigenschaft 2 resp. 5 Jahre in München sich aufgehalten hat, auf Grund seines Aufenthaltes die Verleihung des Bürgerrechts resp. der Heimat in München beanspruchen, wenn er zugleich die Aufnahme in den bayrischen Staatsverband erwirkt.

§ 12.

Die polizeiliche Ausweisung Bundesangehöriger aus dem Orte ihres dauernden oder vorübergehenden Aufenthalts in anderen, als in den durch dieses Gesetz vorgesehenen Fällen,1) ist unzulässig.

Im Uebrigen werden die Bestimmungen über die Fremdenpolizei durch dieses Gesetz nicht berührt.

1) Vergleiche hiezu die Bemerkungen oben in Note 7 zu § 1.

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