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Reichsverfassungsurkunde

vom 16. April 1871 und die wichtigsten Administrativgesetze des deutschen Reichs mit einer systematischen Darstellung der Grundzüge des deutschen Verfassungsrechts.
Herausgegeben und erläutert von Emil Riedel im Verlag C.H. Beck, Nördlingen 1871.

Zweite Abtheilung. Verfassung des deutschen Reiches. V. Reichstag.
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Artikel 20.1)

Der Reichstag2) geht aus allgemeinen und direkten Wahlen3) mit geheimer Abstimmung hervor.

Bis zu der gesetzlichen Regelung, welche im § 54) des Wahlgesetzes vom 31. Mai 1869 (Bundesgesetzbl. 1869 S. 145) vorbehalten ist, werden in Bayern 48, in Württemberg 17, in Baden 14, in Hessen südlich des Main 6 Abgeordnete gewählt, und beträgt demnach die Gesammtzahl der Abgeordneten 382.

1) Der II. Absatz des Art. 20 der Reichsverfassung war selbstverständlich in Art. 20 der norddeutschen Bundesverfassung nicht enthalten.

2) a. Über die Verhältnisse des Reichstags und seiner Mitgliedern siehe erste Abtheilung § 6, dann Dr. von Rönne, deutsches Verfassungsrecht, dritte Abtheilung, Abschnitt 3 (Hirth's Annalen IV S. 243 ff.), ferner Thudichum, Verfassungsrecht S. 132 ff., und Hirsemenzel, norddeutsche Bundesverfassung I S. 77 ff.

b. Schon im constituirenden Reichstage (Anlagen zu den stenogr. Ber. 1867 S. 50 u. 51) wurde der Antrag gestellt, daß der Reichstag aus zwei Versammlungen, nemlich einem Ober- und einem Unterhause gebildet und daß das erstere unter Mitwirkung oder nach Analogie der Herrenhäuser resp. ersten Kammern zusammengesetzt werden solle. Dieser Gedanke ist unmittelbar vor Gründung des deutschen Reiches wiederholt worden in der im September 1870 erschienenen Schrift: „Deutschlands Zukunft, das deutsche Reich“ und hat außerdem in der Presse, namentlich in den Beilagen zu Nr. 47 und 65 der neuen Preußischen (Kreuz-) Zeitung Vertretung gefunden; siehe dagegen Dr. Auerbach, das neue deutsche Reich S. 19 ff., dann die Rede des Fürsten von Bismarck in der 18. Sitzung des Reichstags von 1871 Stenogr. Ber. S. 298.

3) Die Wahlen sind nach dem nunmehr auf Grund der Verträge in ganz Deutschland geltenden Wahl-Gesetze für den Reichstag des norddeutschen Bundes vom 31. Mai 1869 und dem hierzu vom Bundesrathe erlassenen Wahlreglement vom 28. Mai 1870 zuvollziehen. **) Dieses Reglement bildet einen integrirenden Bestandtheil des Gesetzes, da es nach § 15 des Gesetzes nur mit Zustimmung des Reichstags abgeändert werden kann. Es wurde demgemäß auch vom Reichstage bei mehrfachen Gelegenheiten der Grundsatß ausgesprochen, daß die Verletzung der im Reglement vorgeschriebenen wesentlichen Förmlichkeiten, insbesondere der Bestimmungen über Anfertigung, öffentliche Auslage, Abschluß und Unterzeichnung der Wählerlisten, ferner über die Zahl der Mitglieder des Wahlvorstandes (Stenogr. Ber. S. 77) und die Führung der Wahlprotokolle, eine Nichtigkeit der betreffenden Wahl zur Folge habe. Mit Rücksicht auf die bei den letzten Wahlen bezüglich der Führung der Gegenliste vorgekommenen Unregelmäßigkeiten*) hat der Bundesrath auf Wunsch des Reichstags ein Schema für die Gegenliste vorgeschrieben, welches den bayrischen Behörden durch Ministerialentschließung vom 22. Mai 1871 Nr. 4969 bekannt gegeben wurde.

Die Eintheilung der Wahlkreise wurde vom Bundesrathe vorgegenommen, in Bayern jedoch für das erstemal gemäß Ziff. III § 2 des Vertrags durch die bayrische Regierung. ***)

Hinsichtlich der Bildung der Abstimmungsbezirke, welche den von den Landesregierungen bezeichneten und in Beilage D des Wahlreglements bekannt gemachten Behörden zusteht, wurden im Reichstage mehrfache Rügen und Beanstandungen beschlossen, indem in einzelnen Fällen zu kleine Bezirke gebildet wurden, so daß es nicht möglich gewesen ist, für den Wahlvorstand die geeignete Anzahl von Mitgliedern zu finden (Sten. Ber. 1871 S. 13), während man in anderen Fällen von der Regel, daß wo möglich jede Gemeinde für sich einen Wahlbezirk zu bilden habe, abgewichen ist und eine größere Zahl von Gemeinden zusammengelegt hat(Sten. Ber. S. 256 ff.).

Weitere Rügen und Beanstandungen wurden im Reichstage beschlossen wegen ungerechtfertigten Einflusses von Seite einzelner Behörden und polizeilicher Vollzugsorgane dann wegen Mißbrauch des geistlichen Einflusses ; vergl. Stenogr. Ber. 1871 S. 41, 228 ff., 284, 567, 783. Ferner wurde im Reichstage ausgesprochen, daß da, wo andere Lokale zur Verfügung stehen, Gastwirthschaften nicht zu Wahllokalen bestimmt werden sollten (Sten. Ber. S. 13). Die Aufnahme von Militärpersonen in die Wählerliste und die Betheiligung derselben an der Wahl hatte die Ungiltigkeit der sämmtlichen in dem betreffenden Wahlbezirke abgegebenen Stimmen zur Folge (Sten. Ber. 1871 S. 12). Sodann wurde im Reichstage anerkannt, daß die Wahlkreiskommissäre nicht befugt seien, Stimmen, welche von dem Wahlbezirksvorstande als giltig erklärt wurden, für ungiltig zu erklären (Sten. Ber. 1871 S. 13 u. 20).

Eine Wahl endlich, in welcher ein Abgeordneter nur mit sehr geringer Majorität gewählt war, wurde vom Reichstage beanstandet, weil eine größere Anzahl von Wählern, deren Stimmabgabe einen Einfluß auf das Wahlergebniß hätte äußern können, durch Naturereigniß verhindert war, sich an der Wahl zu betheiligen; (Stenogr. Ber. des Reichstags 1871 S.27ff).

4) In Art. 5 des Wahlgesetzes ist zwar die Zahl der in jedem Staate des früheren norddeutschen Bundes zur Zeit zu wählender Abgeordneten genau bestimmt, jedoch in Absatz III beigefügt: „Eine Vermehrung der Zahl der Abgeordneten in Folge der steigenden Bevölkerung wird durch das Gesetz bestimmt.“

*) Über die Wahlberechtigung siehe erste Abtheilung § 6 Ziff. I
**) Eine Zusammenstellung vorgekommener Unregelmäßigkeiten sindet sich in Nr. 138 der Drucksachen des Reichstags von 1871.
***) Siehe hierzu die Bekanntmachung des Bundesraths vom 27. Febr. 1871 (Richsgesetzbl. S. 35)

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