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Reichsverfassungsurkunde

vom 16. April 1871 und die wichtigsten Administrativgesetze des deutschen Reichs mit einer systematischen Darstellung der Grundzüge des deutschen Verfassungsrechts.
Herausgegeben und erläutert von Emil Riedel im Verlag C.H. Beck, Nördlingen 1871.

Erste Abtheilung. Grundzüge des Verfassungsrechts des deutschen Reichs.
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§ 6.

Reichstag.

I. Das deutsche Volk wird in seinen auf das Reich bezüglichen Angelegenheiten durch eine Versammlung von Abgeordneten - den Reichstag - vertreten. Derselbe besteht dermalen aus 382 Mitgliedern welche aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Stimmabgabe hervorgehen (Art. 20 der Verf.).

Die Zahl der in jedem Bundesstaate zu wählenden Abgeordneten ist bezüglich derjenigen Staaten, welche den norddeutschen Bund bildeten, in § 5 des Wahlgesetzes vom 31. Mai 1869 (Bayr. Gesetzbl. Pro 1870/71, S. 256 ff.), bezüglich der süddeutschen Staaten aber in Art. 20 Abs. II der Reichsverfassung genau angegeben; bei der Berechnung ging man von dem Grundsatze aus, daß in der Regel auf 100,000 Seelen Ein Abgeordneter treffen soll, und daß in einem Bundesstaate, dessen Bevölkerung 100,000 Seelen nicht erreicht, gleichfalls Ein Abgeordneter zu wählen sei. Die Wahlkreise, in welchen je Ein Abgeordneter gewählt wird, sind durch den Bundesrath gebildet und können nur mit Zustimmung des Reichstags abgeändert werden.

Wähler für den Reichstag ist jeder Deutsche, welcher das 25. Lebensjahr zurückgelegt hat, in dem Bundesstaate, wo er seinen Wohnsitz hat. - Für Personen des Soldatenstandes, des Heeres und der Marine ruht die Berechtigung zum Wählen so lange, als dieselben sich bei der Fahne befinden. Ausgeschlossen sind vom Wahlrechte: alle unter Vormundschaft oder Curatel stehenden Personen, ferner Personen, welche sich im Concurse befinden, sodann Personen, welche öffentliche Armenunterstützung beziehen oder im vorhergehenden Jahre bezogen haben, sowie endlich diejenigen, denen der Vollgenuß der bürgerlichen Rechte durch Strafurtheil entzogen ist.

Wählbar zum Abgeordneten ist jeder Deutsche, welcher das 25. Lebensjahr zurückgelegt und einem Bundesstaate seit mindestens einem Jahre angehört hat, soferne er nicht nach Vorstehendem vom Wählen ausgeschlossen ist. Beamte bedürfen keines Urlaubs zum Eintritte in den Reichstag. Niemand kann zugleich Mitglied des Bundesraths und des Reichstags sein (Art. 9 der Verf.).

In der Regel, d. h. wenn nicht in Folge der Auflösung des Reichstags eine frühere Wahl nöthig ist, wird alle 3*) Jahre neu gewählt (Art. 24 der Verf.). [*) Per Gesetz vom 19. März 1888 wurde in Art. 24 das Wort "drei" durch das Wort "fünf" ersetzt.]

Die näheren Bestimmungen über die Vornahme der Wahlen finden sich in dem bereits erwähnten - nunmehr für Gesammtdeutschland geltenden Wahlgesetze für den Reichstag des norddeutschen Bundes vom 31. Mai 1869 und in dem hiezu vom Bundesrathe erlassenen Wahlreglement vom 28. Mai 1870 (Bayr. Gesetzbl. 1870/71, S. 263 ff.).

Zum Schutze des Reichstags sind im deutschen Strafgesetzbuche besondere Bestimmungen getroffen etc. § 105 u. 106.

II. Der Reichstag kann nur zusammentreten, wenn er vom Kaiser berufen ist. Diese Berufung muß aber im Hinblick auf Art. 13 der Verfassung und auf die Bestimmungen über das Reichsbudget und die Rechnungslegung alle Jahre mindestens Einmal erfolgen.

Die Verhandlungen des Reichstags haben erst nach dessen Eröffnung, welche dem Kaiser zusteht, zu beginnen. Der Kaiser ist berechtigt, den Reichstag zu vertagen d. h. dessen Sitzungen zeitweise unter gleichzeitiger Bestimmung des Termins für deren Wiederbeginn zu unterbrechen; die Vertagung darf aber ohne Zustimmung des Reichstags nicht länger als 30 Tage dauern und während derselben Session nicht wiederholt werden.

Die gleichsfalls dem Kaiser zustehende Schließung des Reichstages erfolgt, wenn die Zeit seiner Wirksamkeit abgelaufen ist, oder seine Geschäfte - wenigstens im Wesentlichen - erledigt sind.

Nach der Schließung ist der Reichstag (bis zu seiner Wiederberufung) nicht mehr berechtigt, Sitzungen zu halten und sich als Kollegium zu geriren etc.

Wesentlich verschieden von der Schließung des Reichstags ist dessen Auflösung, welche während der Legislaturperiode nur auf Grund eines Bundesrathsbeschlusses mit Zustimmung des Kaisers erfolgen kann (Art. 24 der Verf.). Durch die Auflösung wird dem Reichstage nicht bloß die Befugniß, weitere Sitzungen zu halten, entzogen, sondern es wird die Wirksamkeit der für eine bestimmte Legislaturperiode stattgehabten Wahlen definitiv beseitigt, so daß das Mandat der einzelnen Abgeordneten erlischt. Im Falle einer Auflösung müssen innerhalb eines Zeitraums von 60 Tagen nach derselben die Wähler und innerhalb eines Zeitraums von 90 Tagen nach der Auflösung der neugewählte Reichstag versammelt werden (Art. 25 der Verf.).

III. Der Reichstag ist befugt, seine inneren Angelegenheiten selbst zu ordnen. Er prüft demgemäß insbesondere die Legitimationen seiner Mitglieder und entscheidet darüber; er regelt seinen Geschäftsgang und seine Disciplin durch eine Geschäftsordnung und erwählt seine Präsidenten und Schriftführer (Art. 27 der Verf.). Durch die Verfasssung ist hinsichtlich der Geschäftsordnung1) lediglich bestimmt, daß die Verhandlungen des Reichstags öffentlich sind (Art. 22), dann daß der Reichstag nach absoluter Stimmenmehrheit beschließt und daß zur Giltigkeit der Beschlußfassung die Anwesenheit der Mehrheit der gesetzlichen Anzahl der Mitglieder erforderlich ist. Bei der Beschlußfassung über eine nicht dem ganzen Reiche gemeinschaftliche Angelegenheit werden nur die Stimmen derjenigen Abgeordneten gezählt, die in Bundesstaaten gewählt sind, welchen die Angelegenheit gemeinschaftlich ist (Art. 28 der Verf.).

Aus den Art. 9 und 16 der Bundesverfassung endlich ergibt sich, daß die Mitglieder des Bundesraths und die zur Vertretung der Bundesrathsvorlagen berufenen Kommissäre auf Verlangen jederzeit im Reichstage gehört werden müsssen.

IV. Bezüglich der Aufgabe und rechtlichen Stellung der Reichstagsabgeordneten enthält die Verfassung Folgendes:

Die Reichstagsabgeordneten sind an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden, sondern haben lediglich die freie Ueberzeugung über das, was zum Besten des gesammten Volkes dient, zur Richtschnur ihrer Abstimmung zu nehmen (Art. 29 der Verf.).

Sie unterliegen bei Ausübung ihres Berufs lediglich der Disciplin des Reichstags und dürfen außerdem wegen ihrer in demselben gemachten Äußerungen weder gerichtlich noch disciplinarisch verfolgt, noch sonst zur Verantwortung gezogen werden (Art. 29 und 30 der Verf.).

Ohne Genehmigung des Reichstags darf kein Mitglied desselben während der Sitzungsperiode wegen einer strafbaren Handlung in Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer wenn es bei Ausübung der That oder im Laufe des nächstfolgenden Tages ergriffen wird. Zur Verhaftung wegen Schulden ist gleichfalls die Genehmigung des Reichstags erforderlich. Auf Verlangen des Reichstags wird jedes Strafverfahren gegen einen Abgeordneten und jede Untersuchungs- oder Civilhaft für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben (Art. 31 der Verf.). - Die Mitglieder des Reichstags dürfen als solche keine Besoldung oder Entschädigung aus öffentlichen Mitteln beziehen (Art. 32 ibid.). Die Annahme einer Anstellung oder Beförderung in einem Reichs- oder Staatsamte zieht den Verlust des Abgeordnetenmandats nach sich (Art. 21 ibid.).

V. Wirkungskreis des Reichstags. Der Reichstag ist

1. vor Allem zur Mitwirkung bei der Reichsgesetzgebung berufen. Ohne seine Zustimmung können neue Reichsgesetze nicht erlassen und bestehende nicht aufgehoben, abgeändert oder authentisch erläutert werden. Verträge, welche einen Gegenstand der Reichsgesetzgebung betreffen, erfordern zu ihrer Giltigkeit die Genehmigung des Reichstags (Art. 5 und 11 der Verf.).

2. Da der Reichshaushalts - Etat, in welchem alle Einnahmen und Ausgaben des Reichs für jedes Jahr veranschlagt aufgenommen werden müssen, durch Gesetz festzustellen ist, so kann der Abschluß dieses Etats nicht ohne Zustimmung des Reichstags erfolgen (Art. 69 der Verf.). Derselbe hat demgemäß

3. insbesondere im Vereine mit dem Bundesrathe das Recht der Festsetzung der Reichsausgaben und der von den Einzelstaaten zu leistenden Matrikularbeiträge, dann das Steuerbewilligungsrecht soferne nicht, was z. B. bei den Zöllen oder den in Art. 35 der Verf. erwähnten Verbrauchssteuern der Fall, eine zeitlich unbeschränkte Befugniß zur Erhebung vorliegt (Art. 70 der Verf.).

4. Dem Reichstage steht ferner die Befugniß zu, die Ergebnisse der Reichsfinanzverwaltung zu prüfen und ungerechtfertigte Rechnungspossten zu beanstanden.

5. Zur Aufnahme eines Reichsanlehen sowie zur Uebernahme einer Garantie zu Lasten des Reichs ist die Zustimmung des Reichstags erforderlich (Art. 73 der Verf.). Er nimmt an der Controle des Reichsschuldenwesens theil, und ordnet deßhalb drei Mitglieder zur Bundes-Schuldenkommission ab, welche mit absoluter Stimmenmehrheit auf drei Jahre gewählt werden (Ges. v. 19. Juni 1868 § 4).

6. Der Reichstag ist endlich durch seine Stellung als Vertreter des deutschen Volks und im Hinblick auf Art. 17 und 23 der Verfassung die Interessen des Reichs und die Rechte der einzelnen Reichsangehörigen im Wege der eigenen Initiative zu wahren berufen und deßhalb berechtigt

a. innerhalb der Kompetenz des Reiches Gesetze vorzuschlagen und an ihn gerichtete Petitionen dem Bundesrathe resp. Reichskanzler zu überweisen,

b. wegen etwaiger Verlezungen der Verfassung oder der Reichsinteressen die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers in Anspruch zu nehmen, und

c. zur Geltendmachung dieser Befugnisse Interpellationen zu stellen,

d. seine Anschauungen im Wege von Adressen, Anträgen und dergl. dem Bundespräsidium zur Kenntniß zu bringen.

Die Frage, wie die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers praktisch zu realisiren sei, ist in der Verfassung nicht gelöst; auch steht dem Reichstage kein direktes Mitwirkungsrecht bei Kriegserklärungen und Friedensschlüssen2) zu.

Nachdem derselbe jedoch das Recht der Genehmigung der Reichs-Ausgaben und Einnahmen, sowie der Reichsanlehen hat, so ist ihm ein entscheidender Einfluß in allen diesen Beziehungen verfassungsmäßig gesichert.

VI. Die Verhandlungen des Reichstags werden veröffentlicht

a. durch die gedruckten stenographischen Berichte über die einzelnen Sitzungen,

b. durch die denselben beigefügten sogen. Anlagen zu den Verhandlungen des Reichstags, worin die Regierungsvorlagen, die Anträge und Kommissionsberichte der Abgeordneten, sowie in besonderen Beilagen die Verzeichnisse über die beim Reichstage eingegangenen Petitionen enthalten sind,

c. durch die sogen. Drucksachen des Reichstags, welche die Berathungsgegenstände, Tagesordnungen, Mitgliederverzeichnisse u. s. w. nach Nummerngeordnet, enthalten, und im Wesentlichen in den soeben erwähnten Anlagen zu den stenographischen Berichten wiederkehren.

Die Veröffentlichung der Reichstagsverhandlungen ist besonders geschützt durch Art. 22 Abs. II der Verfassung, wonach wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des Reichstags vor jeder Verantwortlichkeit frei bleiben.

1) Eine singuläre Vorschrift findet sich in § 4 des Gesetzes vom 19. Juni 1868 in Bezug auf die Bestellung der vom Reichstag zu wählenden Mitglieder der Bundesschuldenkommission.

2) Betreffen die Friedensschlüsse zugleich Gesetzgebungsmaterien, so ist zur Ordnung der letzteren die Mitwirkung des Reichstags erforderlich.

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