Bismarcks Erben Logo

Reichsverfassungsurkunde

vom 16. April 1871 und die wichtigsten Administrativgesetze des deutschen Reichs mit einer systematischen Darstellung der Grundzüge des deutschen Verfassungsrechts.
Herausgegeben und erläutert von Emil Riedel im Verlag C.H. Beck, Nördlingen 1871.

Zweite Abtheilung. Verfassung des deutschen Reiches. IV. Präsidium.
← Artikel 10 | Seite 102-106 | Artikel 12 →

Artikel 11.1)

Das Präsidium2) des Bundes steht dem Könige von Preußen3) zu, welcher den Namen deutscher Kaiser4) führt. Der Kaiser hat das Reich völkerrechtlich zu vertreten,5) im Namen des Reichs Krieg zu erklären6) und Frieden zu schließen, Bündnisse7) und andere Verträge8) mit fremden Staaten einzugehen, Gesandte9) zu beglaubigen und zu empfangen.

Zur Erklärung des Krieges im Namen des Reichs ist die Zustimmung des Bundesrathes erforderlich, es sei denn, daß ein Angriff auf das Bundesgebiet oder dessen Küsten erfolgt.10)

Insoweit die Verträge mit fremden Staaten sich auf solche Gegenstände beziehen, welche nach Artikel 411) in den Bereich der Reichsgesetzgebung gehören, ist zu ihrem Abschluß die Zustimmung des Bundesrathes und zu ihrer Gültigkeit die Genehmigung des Reichstages erforderlich.

1) Der Eingang des Artikel 11 der norddeutschen Verfassung lautete einfach „das Präsidium des Bundes steht der Krone Preußen zu“, und hat daher einerseits durch die Einschaltung des Kaisertitels und andererseits durch die Umwandlung des Wortes „Krone“ in „König“ eine Veränderung erfahren. Außerdem ist der Absatz II des Art. 11 der Reichsverfassung neu; siehe unten Note 10.

2) Über die Stellung und Zuständigkeit des Präsidiums siehe erste Abtheilung § 5.

3) Die Umwandlung des Ausdrucks „Krone Preußen“ in „König von Preußen“ hat offenbar nur eine redaktionelle Bedeutung, da die Verträge (siehe § 7 des bayr. Vertrags) in dieser Hinsicht keine Änderung der norddeutschen Bundesverfassung enthalten, sondern das Präsidium an die Krone Preußen übertragen haben und da auch der in der folgenden Note 4 abgedruckte Brief nur davon spricht, daß „die Ausübung der Präsidialrechte des Bundes mit der Führung des Titels eines deutschen Kaisers verbunden werde." Die von Dr. Auerbach in seiner Ausgabe der Reichsverfassung zu Art. 11 gemachte Bemerkung, daß in Folge der neuen Redaktion dieses Artikels die Bestimmungen der preußischen Verfassung „über die Reichsverwesung auf das deutsche Reich keine Anwendung finden,“ dürfte daher kaum zutreffen; es liegt vielmehr hier einer der von dem Reichstagsabgeordneten Lasker bei der Berathung der Reichsverfassung erwähnten Fälle vor, in denen auf die Verträge zurückzugehen ist; siehe Vorbemerkungen zu dem Promulgationsgesetze Ziff. II.

[Über die Reichsverwesung und die Ausübung der Kaiserlichen Rechte durch den preußischen Regenten siehe Rönne, Das Staatsrecht der preußischen Monarchie, Bd. 1, § 16 III Rechte und Pflichten des Reichsverwesers, Ziffer 2)]

4) Die Einschaltung des Kaisertitels wurde durch folgenden Brief Seiner Majestät des Königs von Bayern an Seine Majestät den König von Preußen veranlaßt:

„Nach dem Beitritt Süddeutschlands zu dem deutschen Verfassungsbündniß werden die Euerer Majestät übertragenen Präsidialrechte über alle deutschen Staaten sich erstrecken. Ich habe Mich zu deren Vereinigung in Einer Hand in der Ueberzeugung bereit erklärt, daß dadurch den Gesammtinteressen des deutschen Vaterlandes und seiner verbündeten Fürsten entsprochen werde, zugleich aber in dem Vertrauen, daß die dem Bundespräsidium nach der Verfassung zustehenden Rechte durch Wiederherstellung eines deutschen Reiches und der deutschen Kaiserwürde als Rechte bezeichnet werden, welche Eure Majestät im Namen des gesammten deutschen Vaterlandes auf Grund der Einigung seiner Fürsten ausüben. Ich habe Mich daher an die deutschen Fürsten mit dem Vorschlage gewendet, gemeinschaftlich mit Mir bei Eurer Majestät in Anregung zu bringen, daß die Ausübung der Präsidialrechte des Bundes mit Führung des Titels eines deutschen Kaisers verbunden werde. Sobald Mir Eure Majestät und die verbündeten Fürsten Ihre Willensmeinung kundgegeben haben, würde Ich Meine Regierung beauftragen, das Weitere zur Erzielung der entsprechenden Vereinbarungen einzuleiten.“ Vergleiche hiezu die stenogr. Berichte des norddeutschen Reichstags 1870 II, außerordentl. Session S. 76 u. 167.

5) Das Reich erscheint gegen Außen als ein einheitliches Ganzes und wird als solches vom Kaiser allein vertreten; vergl. hierzu die Äußerung des Fürsten von Bismarck im Reichstage 1871 (Stenog. Ber. S. 95).

6) Das Recht des Kaisers, Krieg zu erklären, ist durch die Bestimmung in Abs. II des Art. 11 limitirt. Was das Recht der Einzelstaaten, für sich Krieg zu führen, betrifft, so ist zunächst ein Krieg zwischen zwei Bundesstaaten durch die Unauflöslichkeit des Bundesverhältnisses sowie durch die Bestimmung in Art. 76 Abs. I der Verfassung rechtlich ausgeschlossen; aber auch mit einem auswärtigen Staate kann kein einzelner Bundesstaat für sich allein Krieg führen, denn im Falle eines auswärtigen Angriffs auf das Gebiet eines Bundesstaates hat der Schutz des Reiches einzutreten, während im Uebrigen in Betracht kommt, daß die Kontingente sämmtlicher Bundesstaaten integrirende Bestandtheile des Reichsheeres sind, welche im Kriege unter dem Oberbefehl des Kaisers stehen, und daher ohne dessen Genehmigung nicht für den Krieg verwendet werden können; auch ist zu berücksichtigen, daß die Einzelstaaten nicht in der Lage sind, bei einem Friedensschlusse einseitig d. h. ohne Mitwirkung des Reichs über Theile ihres Gebietes zu Gunsten einer auswärtigen Macht zu verfügen. Den vorstehend erwähnten Beschränkungen unterliegt übrigens Preußen rechtlich in demselben Maaße, wie irgend ein anderer Bundesstaat.

7) Bündnisse, welche die Zusicherung enthalten, daß das Reich an dem Kriege Theil nehmen werde, auch wenn ein Angriff auf das Bundesgebiet oder dessen Küsten nicht erfolgt, werden zu ihrer Wirksamkeit im Hinblick auf Art. 11 Abs. II der Zustimmung des Bundesraths bedürfen. Die Einzelstaaten können für sich gegenüber fremden Staaten keine Verpflichtungen in Bezug auf ihr Verhalten in einem Kriegsfalle eingehen.

8) a. Das Recht, Verträge zu schließen, ist gemäß Art. 11 Abs. III unter Umständen an die Zustimmung des Bundesraths und die Genehmigung des Reichstags gebunden.

b. Da die Verträge im Namen des Reichs eingegangen werden, so ist klar, daß sie sich nur auf Gegenstände beziehen können, welche nach den Bestimmungen der Verfassung oder der Natur der Sache als Reichsangelegenheiten erscheinen.

Nicht minder klar ist, daß die Einzelstaaten nicht befugt sind, über Gegenstände, welche ausschließend dem Reiche überwiesen sind, Verträge mit fremden Staaten einzugehen. - Concurrirt die Kompetenz des Reiches in Bezug auf eine bestimmte Materie mit den Regierungsrechten der Einzelstaaten, so können die letzteren so lange und insoweit, als nicht das Reich von seiner Vertragsbefugniß Gebrauch gemacht hat, über die betreffende Materie Verträge schließen. In allen ausschließend in die Zuständigkeit der Einzelstaaten fallenden Materien endlich sind dieselben nach wie vor zum Abschlusse von Verträgen berechtigt.

Das den Einzelstaaten hiernach zukommende Vertragsrecht kann sowohl gegenüber fremden als gegenüber deutschen Staaten ausgeübt werden; in letzterer Hinsicht ist jedoch zu berücksichtigen, daß Materien, welche durch Reichsgesetz geregelt sind wie z. B. das Zollwessen sich nicht mehr zu Vertragsobjekten zwischen den einzelnen Bundesstaaten eignen.

Nach diesen Grundsätzen ist auch die Frage über den Fortbestand der von den einzelnen Bundesstaaten bereits vor ihrem Eintritte in das Reich unter sich oder mit fremden Staaten abgeschlossenen Verträge zu beurtheilen. Verträge, welche der norddeutsche Bund für sich eingegangen hat, werden nicht ipso juro als für das ganze Reich verbindlich zu erachten sein.

c. Dem Ermessen des Bundespräsidiums ist es anheimgegeben, ob es in einzelnen Fällen Vertreter der Einzelstaaten oder den Bundesrathsausschuß für auswärtige Angelegenheiten zu den Verhandlungen über die für das Reich abzuschließenden Verträge beiziehen will; nur in Bezug auf den Abschluß von Post- und Telegraphenverträgen ist in Nr. XI des bayrischen Schlußprotokolls bestimmt, daß zum Abschlusse solcher Verträge „mit außerdeutschen Staaten zur Wahrung der besonderen Landesinteressen Vertreter der an die betreffenden außerdeutschen Staaten angrenzenden; Bundesstaaten zugezogen werden sollen, und daß den einzelnen Bundesstaaten unbenommen ist, mit anderen Staaten Verträge über das Post- und Telegraphenwesen abzuschließen, sofern sie lediglich den Grenzverkehr betreffen.“

9) a. Es ist hier nur von Gesandten bei auswärtigen Höfen und von nichtdeutschen Gesandten die Rede. Innerhalb des Reichsgebietes gibt es keine Reichsgesandten mehr; die bei den einzelnen deutschen Höfen beglaubigten Gesandtschaften des norddeutschen Bundes wurden daher eingezogen resp. in preußische umgewandelt; siehe hierüber die stenog. Ber. des Reichstags 1871 S. 779.

b. Das auch nach der norddeutschen Bundesverfassung bestehende Recht der einzelnen Bundesstaaten bei anderen Höfen zur Vertretung der specielen - nicht in das Gebiet der hohen Politik übergreifenden Landesinteressen Gesandtschaften zu erhalten ist durch die Verfassung nicht aufgehoben. Gegenüber Bayern hat sich das Bundespräsidium in Ziff. VII des bayrischen Schlußprotokolls verpflichtet, den bayrischen Gesandten an denjenigen Höfen, an welchen Reichsgesandte sich befinden, zur Vertretung der letzteren in Verhinderungsfällen zu bevollmächtigen.

Außerdem erhielt Bayern in Ziff. VIII des Schlußprotokolls die Zusicherung, daß bei Feststellung der Ausgaben für den diplomatischen Dienst des Bundes der bayrischen Regierung für die Bereitstellung ihrer Gesandtschaften sowie für die von denselben zu bethätigende Vertretung der bayrischen Angehörigen eine angemessene Vergütung in Anrechnung gebracht wird. Da diese Zusicherung vom norddeutschen Reichstage anerkannt wurde, so hat Bayern ein Recht auf jene Leistung, jedoch nur in der, durch den Ausdruck „angemessen“ bezeichneten und hienach in dem jeweiligen Etatsgesetz festzustellenden Höhe.

Eine ähnliche Vergütung beziehen auch andere Bundesstaaten, was den Berichterstatter der Reichstagskommission über das Etatsgesetz pro 1871 zu der Bemerkung veranlaßte, daß man die laufende „Bewilligung nur als eine solche ansehen möge, welche für Ein Jahr bewilligt ist, und daß für das nächste Jahr der Entscheidung der Frage, ob im Jahre 1872 eine solche Bewilligung noch zu erfolgen habe, nicht präjudicirt werde; cf. Stenogr. Ber. S. 777-779.

10) Zu Art. 11 Abs. II bemerkte der Präsident des Bundeskanzleramtes in seiner Rede vom 5. Dezember 1870 (Stenogr. Ber. S. 70): „Dieser Zusatz läßt sich unzweifelhaft charakterisieren als eine Verstärkung des föderativen Elements in der Bundesverfassung. Sein wirklicher Charakter liegt aber in etwas Anderem. Je mächtiger der Bund wird, je weiter er sich ausdehnt, um so mehr ist es von Interesse, auch dem Auslande gegenüber in der Bundesverfassung selbst zum Ausdruck zu bringen, was der Bund ist, nemlich ein wesentlich defensives Staatswesen."

11) Die Allegation des Art. 4 der Verf. ist kaum zureichend, denn es wird wohl keinem Zweifel unterliegen, daß Verträge über Gegenstände, welche später im Wege der Verfassungsänderung dem Gebiete der Reichsgesetzgebung zugewiesen wurden, gleichfalls der Zustimmung des Bundesraths und der Genehmigung des Reichstags bedürfen ; das Nemliche ist der Fall, wenn durch die Verträge unmittelbar eine Verfassungsänderung beabsichtigt ist.

zum Seitenanfang

← Artikel 10 | Seite 102-106 | Artikel 12 →


zur Inhaltsübersicht | zur Startseite | zu Bismarcks Erben