Bismarcks Erben Logo

Reichsverfassungsurkunde

vom 16. April 1871 und die wichtigsten Administrativgesetze des deutschen Reichs mit einer systematischen Darstellung der Grundzüge des deutschen Verfassungsrechts.
Herausgegeben und erläutert von Emil Riedel im Verlag C.H. Beck, Nördlingen 1871.

Zweite Abtheilung. Verfassung des deutschen Reiches. V. Reichstag.
← Artikel 22 | Seite 113-114 | Artikel 24 →

Artikel 23.

Der Reichstag hat das Recht, innerhalb der Kompetenz des Reichs Gesetze1) vorzuschlagen und an ihn gerichtete Petitionen2) dem Bundesrathe resp. Reichskanzler zu überweisen.

1) Unter den Ausdruck „Gesetze“ fallen auch Anträge auf Erlaß neuer und Abänderung bestehender Gesetze. Da Verfassungsänderungen nach Art. 78 Abs. 1 der Verfassung in die Kompetenz des Reiches gehören, so wird dem Reichstage das Recht, derartige Aenderungen zu beantragen, nicht zu bestreiten sein; siehe hierüber die ausführlichen Erörterungen in dem deutschen Verfassungsrechte von Rönne (Hirth's Annalen IV S. 78 ff.).

2) a. Die Bestimmung, daß der Reichstag berechtigt sei, Petitionen anzunehmen und dem Bundesrathe resp. Reichskanzler zu überweisen, wurde auf Anregung des constituirenden Reichstags von 1867 in die Verfassung aufgenommen (Stenogr. Ber. S. 451). Aus diesem Satze folgt von selbst die Befugniß der Bundesangehörigen, an den Reichstag Petitionen zu richten; dieselbe ist auch von keiner Seite bestritten, gleichwohl hat die von verschiedenen Seiten gehegte Vermuthung , daß man Beamte wegen einer Petition an den Reichstag disciplinirt habe, im ersten deutschen Reichstage zu lebhaften Debatten geführt (Stenogr. Ber. 1871 S.762 – 770.)

Die eingegangenen Petitionen werden in der Regel d. h. wenn sie nicht mit einem bereits einer anderen Kommission vorliegenden Gegenstande zusammenhängen, der Petitionskommission übergeben und gelangen im Reichstage nur dann zur weiteren Erörterung, wenn solche entweder von der Kommission oder von 15 Mitgliedern des Reichstags beantragt wird.

Abgesehen hievon wird der Inhalt sämmtlicher an den Reichstag gerichteter Petitionen von der Kommission durch eine in tabellarischer Form zu fertigende Zusammenstellung zur Kenntniß der einzelnen Mitglieder des Reichstags gebracht (§ 26 der Geschäftsordnung).

Ob und in wieferne der Bundesrath oder Reichskanzler die durch den Reichstag übermittelten Petitionen zu berücksichtigen hat, ist in der Verfassung nicht direkt bestimmt.

b. Als selbstverständlich wurde im constituirenden Reichstage erachtet, daß dem Reichstage das Recht zukomme, Adressen zu erlassen und Interpellationen zu stellen (Sten. Ber. 1867 S. 139); und es wurde wohl aus diesem Grunde ein deßfalls gestelltes ausdrückliches Amendement abgelehnt (Sten. Ber. 1867 S. 449); dagegen hat der Reichstag, wie aus den Verhandlungen von 1867 (Sten. Ber. S. 443 bis 450) klar hervorgeht, nicht „das Recht, Thatsachen durch Vernehmung von Zeugen, Sachverständigen und anderen Auskunftsperssonen zu erheben und in gleicher Weise Kommissionen mit der Erhebung von Thatsachen zu beauftragen.“

Interpellationen müssen nach § 30 der Geschäftsordnung bestimmt formulirt und von 30 Mitgliedern unterzeichnet sein.

An die Beantwortung der Interpellationen oder deren Ablehnung darf sich eine sofortige Besprechung des Gegenstandes anschließen, wenn mindestens 50 Mitglieder darauf antragen. Die Stellung eines Antrags bei dieser Besprechung ist unzulässig (§ 31 d. G.O.).

c. Ein Beschwerderecht des Reichstags ergibt sich aus der Bestimmung über die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers (Art. 17 der Verf.).

zum Seitenanfang

← Artikel 22 | Seite 113-114 | Artikel 24 →


zur Inhaltsübersicht | zur Startseite | zu Bismarcks Erben