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Reichsverfassungsurkunde

vom 16. April 1871 und die wichtigsten Administrativgesetze des deutschen Reichs mit einer systematischen Darstellung der Grundzüge des deutschen Verfassungsrechts.
Herausgegeben und erläutert von Emil Riedel im Verlag C.H. Beck, Nördlingen 1871.

Erste Abtheilung. Grundzüge des Verfassungsrechts des deutschen Reichs.
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§ 9.

Reichskanzler und Centralbehörden des Reiches

I. Dem vom Kaiser ernannten Reichskanzler ist durch die Verfassung eine Doppelstellung angewiesen. Er hat einerseits als Vertreter des Kaisers den Vorsitz, und die Geschäftsleitung sowie die preußischen Stimmen1) im Bundesrathe zu führen, und vereinigt andererseits zur Zeit in Bezug auf die Reichsregierungsgeschäfte alle diejenigen Funktionen, welche in constitutionellen Staaten den Staatsministern obliegen2).

Die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers mit Ausnahme der rein militärischen, bedürfen demgemäß der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt.

Nach Art. 70 und 72 der Verfassung hat der Reichskanzler die von den Einzelstaaten zu leistenden Matrikularbeiträge bis zur Höhe des budgetmäßigen Satzes auszuschreiben, und alljährlich über die Verwendung aller Einnahmen des Reichs dem Bundesrathe und Reichstage Rechnung zu legen.

Einzelne Funktionen des Reichskanzlers sind in den Reichsgesetzen besonders hervorgehoben. So führt der Reichskanzler z. B. nach dem Gesetze über die Organisation der Bundeskonsulate vom 8. November 1867 die Aufsicht über die Reichskonsuln und seit deren Jurisdiktionsbezirke und Gebühren nach Vernehmung des Bundesrathsausschusses für Handel und Verkehr fest. Er Hat die Instruktion für den Rechnungshof im Einvernehmen mit dem Bundesrathe zu erlassen (Ges. v. 4. Juli 1868 § 5 Bundesgesetzbl. S. 434). Ihm ist die obere Leitung der Staatsschuldenverwaltung übertragen (Ges. v. 19. Juni 1868 Bundesgesetzbl. S. 339). Er hat die Ausführung des Gesetzes über Maßregeln gegen die Rinderpest zu überwachen (Ges.. v. 7. April 1869 Bdsges. S. 107). Er ernennt die Sekretäre des Bundesoberhandelsgerichts (Ges. v. 12. Juni 1869 § 4 Bundesgesetbl. S. 201).

Der Reichskanzler kann nach § 1 des Ges. vom 4. Mai 1870, betreffend die Eheschließung und die Beurkundung des Personenstandes von Bundesangehörigen im Auslande, den diplomatischen Vertretern und Konsuln des Reichs die Ermächtigung zur Vornahme der Eheschließungen sowie zur Beurkundung des Personenstandes der Bundesangehörigen ertheilen. – Dem Reichskanzler wurden endlich bei der Aufnahme von Reichsanlehen weitgehende Befugnisse bezüglich der Effektuirung dieser Anleihen ertheilt; vergl. z. B. das Ges. v. 26. April 1871, betreffend die Beschaffung weiterer Geldmittel zur Bestreitung der durch den Krieg veranlaßten außerordentlichen Ausgaben (Bdsges. S. 91).

II. 1) Zur Unterstützung des Reichskanzlers in der Besorgung und Beaufsichtigung der Reichsverwaltungsangelegenheiten wurde durch Präsidialveroronung vom 12. August 1867 (Gesseßbl. S. 29) das Bundeskanzleramt, nunmehr nach kaiserlichem Erlasse vom 12. Mai 1871 Reichskanzleramt, errichtet, welches unter der unmittelbaren Leitung des Reichskanzlers steht.3)

2) Die Verwaltung des Post- und Telegraphenwesens4) wird unter der Leitung des Reichskanzlers von dem „Generalposstamte des deutschen Reichs“ und der „Generaldirektion der Telegraphen“ geführt. Diese Behörden bilden die I. beziehungsweise II. Abtheilung des Reichskanzleramts; ihnen sind die Oberpostdirektionen, Oberpostämter und sonstigen Postanstalten, dann die Telegraphen-Direktionen und Telegraphen-Stationen mit der Eigenschaft als Reichsbehörden untergeordnet (V.O. vom 18. Dez. 1867).

3) Um die Einhaltung des gesetzlichen Verfahrens bei Erhebung der Zölle und der im Art. 35 der Verf. erwähnten Verbrauchssteuern5) zu controliren, sind den Zoll- und Steuerämtern sowie den Direktivbehörden der Einzelstaaten Reichsbeamte beigegeben, welche vom Kaiser nach Vernehmung des Bundesrathsausschusses für Zoll- und Steuerwesen ernannt werden (Art. 36 der Verf.).

4) Durch Gesetz vom 19. Juni 1868 wurde die Verwaltung des Bundes-(Reichs-)Schuldenwesens bis auf Weiteres der preußischen Hauptverwaltung der Staatsschulden mit der Bestimmung übertragen, daß der Direktor und die Mitglieder jener Verwaltung die Ausdehnung ihres Diensteides auf die Bundesangelegenheiten zu Protokoll erklären, welches dem Bundesrathe und Reichstage vorzulegen ist. Zugleich wurde zur Kontrolle die Bundesschuldenkommission bestellt.

5) Die Centralkassengeschäfte des Reichs werden durch die Reichshauptkasse besorgt. - Die Kontrolle des gesammten Bundeshaushalts durch Prüfung und Feststellung der Rechnungen sowie des Inventars über das Bundeseigenthum und des Gebahrens der Schuldenverwaltung ist von der preußischen Oberrechnungskammer unter der Benennung , „Rechnungshof des (nord-)deutschen Bundes“ zu führen; Ges. v. 4. Juli 1868.

6) Auf Grund der Maß- und Gewichtsordnung für den (nord-)deutschen Bund vom 17. August 1868 ist als Centralorgan für die Ueberwachung des gesammten Eichungswesens „die Normal-Eichungskommission“ zu Berlin bestellt und mit einem umfassenden Verordnungsrechte ausgestattet.

7) Für Handelssachen wurde auf Grund des Ges. vom 12. Juni 1869 ein für alle Bundesstaaten gemeinsamer oberster Gerichtshof errichtet, dessen Zuständigkeit sich über das ganze Bundesgebiet erstreckt, und welcher die Benennung „Bundes-Oberhandelsgericht" führt und seinen Sitz in Leipzig hat. - Die Kompetenz dieses Gerichtshofs wurde inzwischen erweitert und zwar zunächst durch die Bestimmung in § 32 des Gesees vom 11. Juni 1870, betreffend das Urheberrecht an Schriftwerken, Abbildungen, musikalischen Kompositionen und dramatischen Werken, wonach das Bundesoberhandelsgericht nicht bloß hinsichtlich derjenigen bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, welche sich auf Grund dieses Gesetzes ergeben, sondern auch in den nach dem letzteren zu beurtheilenden Strafsachen an die Stelle der obersten Landesgerichtshöfe gesetzt wurde. - Ferner sind dem Bundesoberhandelsgerichte durch die §§ 3 und 12 des Gesetzes, die Einführung norddeutscher Gesetze in Bayern betr. vom 22. April 1871 alle diejenigen Zuständigkeiten übertragen, welche nach § 24 des Gesetzes vom 8. November 1867 über die Organisation der Bundeskonsulate und dem preußischen Obertribunale zukommen.

8) Zur Entscheidung der Berufungen in Streitigkeiten zwischen Armenverbänden, welche verschieden Bundesstaaten angehören, ist auf Grund des Gesetzes vom 6. Juni 1870, den Unterstützungswohnsitz betreffend, eine ständige und kollegiale Behörde - „das Bundesamt für das Heimatwesen“ in Berlin errichtet, welchem durch Landesgesetz auch die Zuständigkeit zur Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Armenverbänden ein und desselben Staates überwiesen werden kann; vergl. die §§ 42 u. 52 des alleg. Gesetzes.

9) Dem Reiche unmittelbar untergeordnet ist ferner die gesammte Marineverwaltung (Art. 53).

10) Endlich sind als Reichsorgane zu nennen: die Gesandten und Konsuln des Reichs (Art. 11 u. Art. 56 der Verf.), sowie die vom Kaiser ernannten Höchstkommandirenden der einzelnen Kontingente und die Festungskommandanten6). (Art. 64 der Verf.)

1) Vergleiche hierzu die Rede des Fürsten v. Bismarck im konstituirenden Reichstage von 1867 Sten. Ber. S. 376 u. 377.

2) Ein im Reichstag im Jahr 1869 gestellter Antrag auf Errichtung förmlicher verantwortlicher Bundesministerien wurde abgelehnt. Stenogr. Ber. Bd. I S. 389 ff.

3) Durch die §§ 31, 41 u. 58 des Gesetzes vom 11. Juni 1870 betreffend das Urheberrecht an Schriftwerken etc. ist dem Reichskanzleramt eine bestimmte Verordnungsbefugniß eingeräumt. Ueber den Wirkungskreis des Reichskanzleramts im Allgemeinen siehe die Reichstagsverhandlungen von 1867 S. 131 und von 1868 S. 328.

4) Eine Ausnahme besteht in Bezug auf Bayern und Württemberg.

5) In Ansehung der Bier- und Branntweinsteuer besteht für Bayern, Württemberg und Baden eine Ausnahme.

6) Eine Ausnahme hinsichtlich der Miltärstellen besteht zu Gunsten Bayerns.

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