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Reichsverfassungsurkunde

vom 16. April 1871 und die wichtigsten Administrativgesetze des deutschen Reichs mit einer systematischen Darstellung der Grundzüge des deutschen Verfassungsrechts.
Herausgegeben und erläutert von Emil Riedel im Verlag C.H. Beck, Nördlingen 1871.

Erste Abtheilung. Grundzüge des Verfassungsrechts des deutschen Reichs.
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§ 2.

Hauptmomente der Verfassung des deutschen Reichs.

I. Während der frühere im Jahre 1815 geschlossene deutsche Bund nur eine völkerrechtliche Vereinigung selbständiger Staaten - ein Staatenbund war, dessen Beschlüsse nur dann und insoweit praktische Wirksamkeit erlangten, als sie von den Regierungen der Einzelstaaten für ihre Gebiete in Vollzug gesetzt wurden, ist nunmehr durch die erwähnten Verfassungsbündnisse (Versailler Verträge) aus Gesammtdeutschland ein organisches Staatswesen - ein Bundesstaat geschaffen worden. Das neue deutsche Reich ist demzufolge eine selbständige, von den Bundesgliedern verschiedene, nach Innen und Außen souveräne und mit entsprechender Gewalt ausgestattete Persönlichkeit, deren gesetzmäßige Anordnungen für alle Behörden und Bundesangehörigen unmittelbar und ohne Dazwischenkunft der Landesregierungen bindend sind. Die Normen, nach denen sich der Bestand, die Einrichtung und Verwaltung des deutschen Reiches bemißt, sind in der neu redigirten Reichsverfassung vom 16. April 1871, den darin ausdrücklich vorbehaltenen Sonderverträgen und den Reichsgesetzen enthalten.

II. Als allgemeine Aufgabe des Reichs bezeichnet der Eingang der Reichsverfassung den Schutz des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechts sowie die Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volks. Der ersterwähnte Zweck soll zunächst durch die Schaffung einer starken Centralgewalt und eines einheitlichen deutschen Heeres, welches dem Oberbefehle des Kaisers untersteht, erreicht werden; zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes aber sind der Zuständigkeit des Reiches nicht bloß wichtige Gesetzgebungsbefugnisse, namentlich in Betreff der persönlichen Freiheit, sowie des Handels-, Zoll und Verkehrswesens, sondern auch Vollzugsrechte überwiesen. Es ist nicht zu leugnen, daß der Vorläufer des deutschen Reiches, der norddeutsche Bund, die nach beiden Richtungen an ihn herangetretenen Aufgaben würdig gelöst hat.

III. Die im Reiche vereinigten Einzelstaaten werden in der Verfassung „Bundesglieder“ genannt. Der Bund soll ein ewiger sein, und es kann daher kein Bundesglied aus demselben ohne Zustimmung der sämmtlichen Betheiligten d. h. der Gesetzgebungsfaktoren des Reichs und aller Einzelstaaten austreten.

IV. Das Bundesgebiet bildet sich aus den Territorien der sämmtlichen in Art. 1 der Reichsverfassung angeführten Staaten, zu denen noch die von Frankreich zurückeroberten Gebietstheile – Elsaß und Lothringen kommen. Gegen Außen erscheint das Bundesgebiet als ein einheitliches Ganzes; die Auslandsgrenzen der Einzelstaaten bilden die Reichsgrenzen. Auch gegen Innen ist das Reich in den verschiedenen in § 3 Ziff. V angeführten Beziehungen als ein einheitliches Gebiet zu betrachten.

V. Das deutsche Reich ist fortan nicht bloß in ideeller, sondern auch in rechtlicher Beziehung das weitere Vaterland aller Deutschen. Für ganz Deutschland besteht ein gemeinsames Indigenat (Art. 3 der Reichsverfassung). Wer die Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaate besitzt oder erwirbt, ist oder wird damit von Rechtswegen ein Bundesangehöriger - ein Deutscher. Die Bestimmungen über die Erwerbung und den Verlust der Staats- und Bundesangehörigkeit sind zufolge des Reichsgesetzes vom 1. Juni 1870 in allen Bundesstaaten die nemlichen.

VI. Das Reich besitzt die gesetzgebende und vollziehende Gewalt in dem durch die Verfassung und die Reichsgesetze näher bezeichneten Umfange. Dem Reiche kommt ferner nach Artikel 76 und Artikel 77 der Reichsverfassung eine Art Richteramt1) zu in Bezug auf Streitigkeiten zwischen einzelnen Bundesgliedern, dann in Bezug auf Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Bundesstaats, sowie hinsichtlich ungerechtfertigter Justizverweigerung.

VII. Die Träger der Reichsgewalten sind innerhalb ihres verfassungsmäßigen Wirkungskreises: der Bundesrath (Art. 6-10 der Reichsverf.), der deutsche Kaiser (Art. 11-19) und der Reichstag (Art. 20-32). Da das deutsche Volk durch den Reichstag bei der Ausübung der Reichsgewalt mitwirkt, so erscheint die Regierungsform des Reichs eine constitutionelle.

Die Vollzugsgeschäfte werden durch den vom Kaiser ernannten Reichskanzler (Art. 19 d. Verf.) geleitet und insoferne der Vollzug von Gesetzen nicht durch Vermittlung der Landesbehörden erfolgt, durch Reichsbeamte besorgt

VIII. Zum Schutze der Reichsverfassung dienen folgende Bestimmungen:

a. Der Reichskanzler ist für die Beobachtung der Reichs-verfassung und der Reichsgesetze verantwortlich und hat die kaiserlichen Verfügungen und Anordnungen mitzuzeichnen (Art. 17 der Verf.).

b. Wenn Bundesglieder ihre verfassungsmäßigen Bundespflichten nicht erfüllen, so können sie dazu im Wege der Exekution angehalten werden, welche vom Bundesrathe beschlosssen und vom Kaiser vollstreckt wird (Art. 19 der Verf.).

c. Der Reichstag hat nach Art. 23 der Verfassung das Recht, innerhalb der Kompetenz des Bundes Gesetze vorzuschlagen und an ihn gerichtete Petitionen dem Bundesrathe resp. Reichskanzler zu überweisen, und kann daher jedenfalls etwaige Beschwerden über Verfassungs- oder Gesetzesverletzungen zum entsprechenden Ausdrucke bringen.

d. Personen, welche sich eines Unternehmens gegen die Integrität des Reichs oder eines Angriffs auf die Träger oder Organe der Reichsgewalten schuldig machen, werden nach Maßgabe der Art. 74 und Art. 75 der Verfassung und des gemeinsamen deutschen Strafgesetzbuches gestraft.

IX. Die Stätigkeit der Reichsverfassung wird durch Art. 78 ders. garantirt, wonach Verfassungsänderungen zwar im Wege der Gesetzgebung erfolgen können, aber als abgelehnt gelten, wenn sie im Bundesrathe 14 Stimmen gegen sich haben.

Sonderrechte eines einzelnen Bundesstaats können nur mit dessen Zustimmung abgeändert werden (Art. 78 ibid.).

1) Die im Namen des Reichs von dem Bundesoberhandelsgerichte und den Bundeskonsuln ausgeübte Gerichtsbarkeit erscheint als Ausfluß der dem Reiche in Bezug auf die betreffenden Materien zukommenden Gesetzgebungsbefugniß.

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