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Reichsverfassungsurkunde

vom 16. April 1871 und die wichtigsten Administrativgesetze des deutschen Reichs mit einer systematischen Darstellung der Grundzüge des deutschen Verfassungsrechts.
Herausgegeben und erläutert von Emil Riedel im Verlag C.H. Beck, Nördlingen 1871.

Erste Abtheilung. Grundzüge des Verfassungsrechts des deutschen Reichs.
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§ 10.

Einfluß des Bundesrechtes auf das Landesstaatsrecht.

I. Das Bundesrecht übt hauptsächlich in folgenden Beziehungen Einfluß auf das Landesstaatsrecht:

1) Das Gebiet der Einzelstaaten1) ist als Bestandtheil des deutschen Reichs von Rechtswegen bestimmten Einwirkungen der Reichsgewalt unterworfen, und es ist eben deßhalb auch die Territorialgewalt der Landesregierungen zu Gunsten des Reiches modificirt. Dagegen sind Angriffe auf das Gebiet eines Einzelstaates vom ganzen Reiche abzuwehren, und die Landesregierungen haben außerdem durch ihre Theilnahme an der Reichsregierung (im Bundesrathe) neue Rechte erlangt.

2) Mit dem Landesindigenat ist die Bundesangehörigkeit verbunden auf Grund deren jeder Deutsche in jedem deutschen Bundesstaate als Inländer zu behandeln ist (Art. 3 der Verf.); die landesgesetzlichen Bestimmungen über die rechtliche Stellung der Fremden finden auf Bundesangehörige keine Anwendung mehr. Die Erwerbung und der Verlust des Landesindigenats bemißt sich fortan ausschließend nach der Reichsgesetzgebung2), in specie nach dem hierüber bestehenden Reichsgesetze vom 1. Juni 1870.

3) Die Freiheitsrechte3) der Unterthanen der Einzelstaaten sind durch das Reich nicht nur nicht angetastet, sondern in verschiedenen wesentlichen Beziehungen erweitert, indem der Einfluß des Glaubensbekenntnisses auf die Fähigkeit zur Ausübung bürgerlicher oder staatsbürgerlicher Rechte sowie zur Bekleidung öffentlicher Ämter durch Reichsgesetz (Ges. betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen etc. vom 3. Juli 1869) beseitigt ist, indem ferner kraft der Reichsgesetzgebung jedem Bundesangehörigen das Recht zusteht, ohne Reiselegitimation zu reisen, sich zu verehelichen und allenthalben im Reiche Aufenthalt zu nehmen, Grundbesitz zu erwerben und Handel und Gewerbe zu treiben, und indem endlich die freiheitswidrige Bestimmungen über die Schuldhaft und die Beschlagnahme des Dienst- und Arbeitslohns durch Reichsgesetze größtentheils aufgehoben wurden. (Paßgesgesetz v. 12. Okt. 1867, Freizügigkeitsgesetz vom 1. Nov. 1867, Gesetz über die Aufhebung der polizeilichen Beschränkungen der Eheschließung vom 4. Mai 1868; Gesetz betreffend die Aufhebung der Schuldhaft vom 29. Mai 1868, Gesetz, betreffend die Beschlagnahme des Arbeits- und Dienstlohns vom 21. Juni 1868 und Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869).

In § 5 des Entwurfs eines Gesetzes über das Postwesen des Reichs von 1871 (Anlagen zu den stenogr. Ber. des Reichstags Nr. 87) findet sich die Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses ausdrücklich anerkannt.

Gegen die Doppelbesteuerung derjenigen Bundesangehörigen, welche sich außerhalb ihres Heimatstaates im Reiche aufhalten, ist durch Reichsgesetz vom 13. Mai 1870 Vorsorge getroffen. Das Recht auszuwandern kann nach dem Reichsgesetze über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 1870 keinem Bundesangehörigen, welcher seiner Dienstpflicht in der aktiven Armee genügt hat, durch die Landesbehörden entzogen werden; zugleich ist den Deutschen im Auslande der Abschluß einer giltigen Ehe vor den Bundeskonsuln ermöglicht (Ges. vom 4. Mai 1870).

Die Presse, dann das Vereins- und Versammlungsrecht sind zwar Gegenstand der Reichsgesetzgebung, aber bisher von Reichswegen noch nicht geregel. In § 12 des deutschen Strafgesetzbuches findet sich jedoch die auf die Presse bezügliche Bestimmung, daß „wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen eines Landtags oder einer Kammer eines zum deutschen Reiche gehörigen Staats von jeder Verantwortlichkeit frei bleiben“. Desgleichen ist in § 4 des Postgesetzes vom 2. Nov. 1867 und in § 3 des neuesten Entwurfs eines Postgesetzes der Grundsatz aufgenommen, daß keine im Gebiete des deutschen Reichs erscheinende politische Zeitung, so lange überhaupt der Vertrieb der Zeitungen im Wege des Postdebits erfolgt, von demselben ausgeschlossen oder ungünstiger als andere Blätter behandelt werden darf ; endlich enthält das deutsche Strafgesetzbuch Bestimmungen über Verbrechen und Vergehen, welche durch die Presse begangen werden.

Die staatsbürgerlichen Rechte haben insoferne eine Ausdehnung erfahren, als in der Regel jeder 25 Jahre alte Deutsche zum Reichstage wählen und gewählt werden kann (Wahlgesetz vom 31. Mai 1869); auch steht den Bundesangehörigen in Bezug auf Gegenstände, welche in die Kompetenz der Träger der Reichsgewalt fallen, unzweifelhaft das Recht zu, an diese Petitionen zu richten (Art. 7 Ziff. 3, Art. 17 und Art. 23 der Verf.).

4) Bezüglich der Sicherheit des Vermögens der Unterthanen4) verbleibt es im Allgemeinen bei den bisherigen Landesgesetzen ; der Schutz des literarischen Eigenthums, das Obligationenrecht, das Handels- und Wechsselrecht und das gerichtliche Verfahren sind jedoch Reichsangelegenheiten (Art. 4 Ziff. 6 u. 13) und theilweise bereits durch Reichsgesetze geregelt (Gesetz über die Urheberrechte vom 11. Juni 1870, Gesetz, betreffend die Einführung der allgemeinen deutschen Wechselordnung, der Nürnberger Wechselnovellen und des allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuches vom 5. Juni 1869, Gesetz vom 11. Juni 1870, betreffend die Kommanditgessellschaften auf Aktien und Aktiengesellschaften). Die Urtheile der Landesgerichte sind auch in den übrigen Bundesstaaten vollstreckbar (Ges. vom 21. Juni 1869, betreffend die Gewährung der Rechtshilfe).

Für Zwecke des Reichskriegswesens, insbesondere für die Anlage von Festungen können durch Reichsgesetz Zwangsabtretungen von Vermögensrechten verfügt werden; alle deutschen Eisenbahnverwaltungen sind verbunden, den Anforderungen der Reichsbehörden in Betreff der Benutzung der Eisenbahnen zum Zwecke der Vertheidigung Deutschlands unweigerlich Folge zu leisten und das Militär sowie alles Kriegsmaterial zu gleichen ermäßigten Sähen zu befördern (Art. 47 und Art. 61 der Verf.).

5) Das Reich gewährt den Unterthanen jedes einzelnen Bundesstaates Schutz wegen ungerechtfertigter Justizverweigerung (Art. 77 der Verf.); deßgleichen können dieselben in allen auf die Reichsgesetze und deren Anwendung bezüglichen Angelegenheiten an die Träger der Reichsgewalt Beschwerden richten (Art. 4, Art. 7 Ziff. 3, Art. 17 und Art. 23 der Verf.). Die landesgesetzlichen Mittel zum Schutze der durch die Landesgesetze den Unterthanen gewährleisteten Rechte bleiben principiell unberührt;5) das Strafrecht und die Strafrechtspflege sind jedoch Objekte der Reichsgesetzgebung (Art. 14 Ziff. 13 der Verf.; deutsches Strafgesetzbuch vom 31. Mai 1870 resp. 15. Mai 1871 und Einführungsgesetz vom 31. Mai 1870); auch ist der Kaiser befugt, wenn die öffentliche Sicherheit im Bundesgebiete bedroht ist, einen jeden Theil desselben in Kriegszustand zu erklären (Art. 68 der Verf.).

6) Die Unterthanen6) der Einzelstaaten sind in ihrer Eigenschaft als Bundesangehörige auch dem Reiche gegenüber zu Gehorsam und Treue verbunden; sie haben die Reichssteuer n zu entrichten und ihre Wehrpflicht unmittelbar7) gegenüber dem Reiche zu erfüllen (Art. 57, Art. 58, Art. 63, Art. 70 und Art. 74 der Verf., Gesetz, betreffend die Verpflichtung zum Kriegsdienste vom 9. November 1867, deutsches Strafgesetzbuch vom 31. Mai 1870 § 80 ff.). Den besonderen Pflichten, welche den Landesangehörigen gegenüber ihrem Heimatstaate obliegen, geschieht mit Ausnahme der Wehrpflicht durch die Reichsgesetze principiell kein Eintrag; vergleiche jedoch das Gesetz über Doppelbesteuerung vom 13. Mai 1870.

7) Dem Reiche gegenüber gibt es, abgesehen von der unangetastet gebliebenen Stellung der Landesfürsten und ihrer Familienglieder weder rechtlich bevorzugte noch benachtheiligte Klassen8) und es sind insbesondere, wie bereits oben bemerkt, alle aus dem Glaubensbekenntnisse abgeleiteten Nachtheile in Bezug auf die Ausübung bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte beseitigt werden.

8) Das Gemeindewesen9) der Einzelstaaten wird dadurch berührt, daß dem Reiche nach Art. 4 Ziff. 1 die Gesetzgebung über Freizügigkeit, sowie über die Heimats- und Niederlassungsverhältnisse zukommt. Demzufolge wurde zunächst durch Art. 3 der Verfassung und durch das Freizügigkeitsgesetz den Gemeinden die Befugniß entzogen, Bundesangehörigen den Aufenthalt, die Niederlassung, die Erwerbung von Grundeigenthum oder den Gewerbebetrieb durch lästige Bedingungen zu erschweren.

Sodann wurden, wie bereits oben sub Ziff. 3 erwähnt, die polizeilichen, insbesondere aus dem Gemeindeverbande fließenden Ehehindernisse aufgehoben,10) und endlich wurde das Heimatwesen in ganz Deutschland mit Ausnahme Bayerns, durch ein gemeinsames Gesetz vom 6. Juni 1870, den Unterstützungswohnsitz betreffend, geregelt. In dem letzteren Gesetze (§ 1 u. 10) ist der Grundsatz aufgestellt, daß jeder Deutsche in jedem Bundesstaate in Bezug auf das Maß und die Art der im Falle der Hilfsbedürftigkeit zu gewährenden öffentlichen Unterstützung11), sowie in Bezug auf den Erwerb und Verlust des Unterstützungswohnsitzes als Inländer zu behandeln ist, und daß ein Deutscher, welcher innerhalb eines Ortsarmenverbandes nach zurückgelegtem 24. Lebensjahre zwei Jahre lang ununterbrochen seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hat, dadurch von Rechtswegen den Unterstützungswohnsitz in demselben erwirbt.

Im Uebrigen verbleibt es prinzipiell bei den landesgesetzlichen Bestimmungen über das Gemeindewesen (Art. 3 der Verf. und § 11 des Freizügigkeitsgesetz vom 1. November 1867), soweit nicht die über andere Materien sich erstreckende Reichsgesetzgebung einen Einfluß auf dasselbe äußert; das Letztere ist z. B. der Fall bezüglich der Indigenatsgesetzgebung, indem hienach der Eintritt in den Gemeindeverband einerseits für Bundesangehörige nicht von lästigeren Bedingungen, als für den Inländer bestehen, abhängig gemacht werden und andrerseits die Erwerbung des Indigenats nicht mehr zur unmittelbaren Folge haben kann.12)

9) Die gesetzgebende Gewalt13) sowie das Verordnungsrecht der Einzelstaaten ist auf die oben in den Paragraphen 8 und 9 näher entwickelte Weise zu Gunsten des Reiches manchfach modificirt, wogegen die Landesregierungen im Bundesrathe und Vertreter des deutschen Volks im Reichstage an der Reichsgesetzgebung mitwirken.

10) Auch die Regierungsgewalt14) der Einzelstaaten hat durch den Eintritt in das deutsche Reich verschiedene Veränderungen erlitten; die Fürsorge für die Sicherheit und Wohlfahrt des Gemeinwesens concentrirt sich nicht mehr ausschließend in der Hand der Landesregierungen, sondern ist in vielen und wichtigen Beziehungen an das Reich übergegangen und es finden sich ebendeßhalb auch die materiellen Schranken der Regierungsgewalt nicht mehr im Landesrechte allein, sondern auch in der Reichsverfassung und den Reichsgesetzen.

11) Was die Justizgewalt15) insbesondere betrifft, so übt das Reich,16) abgesetzen von dem Rechte der Gesetzgebung in Bezug auf verschiedene wichtige Materien17) (Art. 4 Ziff. 6 und Ziff. 11-13) unmittelbar das oberste Richteramt in Handels-, Nachdrucks- und Heimatsachen, dann die Konsulargerichtsbarkeit (Gesetz vom 8. November 1867 betreffend die Organisation der Bundesconssulate) und wenigstens in Kriegszeiten, die Militärjustiz. – Auf Grund eines Reichsgesetzes sind die Gerichte, wie oben erwähnt, verbunden, die Urtheile der Gerichte anderer Bundesstaaten zu vollstrecken (Ges. über die Gewährung der Rechtshilfe vom 21. Juni 1869). In Fällen der Justizverweigerung ist Beschwerde an das Reich zulässig (Art. 77 der Verf.).

12) Auch die Polizeigewalt18) der Landesregierungen hat einige Schmälerung erlitten, indem die Beaufsichtigung und Gesetzgebung in Bezug auf eine Anzahl polizeilicher Materien nach Art. 4 der Verf. dem Reiche zusteht, und durch einzelne Gesetze ein unmittelbares Eingreifen der Reichsgewalt in den polizeilichen Vollzug zugelassen ist, z. B. in dem Paßgesetze vom 12. Oktober 1867 § 9, und in dem Gesetze, Maßregeln gegen die Rinderpest vom 7. April 1869 § 12.

13) In umfassender Weise concurrirt das Reich bezüglich der Staatspflege19) mit den Landesregierungen, wie aus Art. 4 Ziff. 1 (Gewerbewesen, Versicherungswesen, Kolonisation und Auswanderung nach außerdeutschen Ländern), Ziff. 3 (Ordnung des Maß-, Münz- und Gewichtssystems, Feststellung der Grundsätze über die Emission von Papiergeld), Ziff. 4 und 5 (Bankwesen und Erfindungspatente), Ziff. 7 (Organisation eines gemeinsamen Schutzes des deutschen Handels im Auslande, der deutschen Schifffahrt und ihrer Flagge und gemeinsame konsularische Vertretung), Ziff. 8 (Eisenbahnwesen, Herstellung von Land- und Wasserstraßen) und Ziff. 9 (Flößerei und Schifffahrtsbetrieb), dann aus den Abschnitten VI (Zoll- und Handelswesen), VII (Eisenbahnwesen), VIII (Post- und Telegraphenwesen) und Art. 54 (Schifffahrt und Wasserstraßen) der Verfassung zu entnehmen.

14) Die Finanzgewalt20) der Einzelstaaten ist keine ausschließliche mehr, indem der Ertrag der Ein- und Ausgangszölle, dann der Rübenzucker-, Salz-, Tabak-, Branntwein- und Biersteuer (Art. 38 der Verf.) sowie der Post- und Telegraphenverwaltung (Art. 49 der Verf.) in die Reichskasse21) fließt, und dem Reiche überdieß das Recht zusteht, Reichssteuern einzuführen (Art. 70 der Verf. und Gesetz über Wechselstempelsteuer vom 10. Juni 1869).

15) Die Militärgewalt22) der Einzelstaaten ist durch die Art. 57-67 der Verfasssung fast vollständig an das Reich übertragen worden, und bestehen in dieser Hinsicht verfassungsmäßig nur zu Gunsten Bayerns und Württembergs Ausnahmen, welche in § 3 Ziff. VII Nr. 12 und Ziff. VIII Nr. 4 näher dargelegt und in der Schlußbestimmung zum IX. Abschnitte der Verfassung besonders anerkannt sind.

16) Desgleichen haben die Einzelstaaten wesentliche Bestandtheile ihrer Repräsentativgewalt23) an das Reich abgetreten, indem das Recht, Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, Bündnisse einzugehen, dann Konsulate außerhalb Deutschlands zu errichten, ausschließend dem Reiche zusteht, indem ferner die Wirksamkeit der Gesandten der Einzelstaaten auf die äußere Politik sich nicht mehr erstrecken kann, und indem endlich das Recht der Landesregierungen Verträge24) zu schließen, durch die dem Reiche zukommende Competenz wesentlich beschränkt ist (Art. 11 der Verf.).

Das Reich hat verfassungsmäßig die Aufgabe, die im Auslande sich aufhaltenden Deutschen zu schützen (Art. 3 der Verf.), und läßt deren Interessen durch die Reichsgesandten und Reichskonsuln vertreten.

17) Der Zollverein25) hat aufgehört, rechtlich zu existiren, indem die Bestimmungen der Zollvereinsverträge und der Vereinsgesetze nunmehr Bestandtheile der Reichsgesetzgebung geworden sind (Art. 33 ff der Verf.).

18) Die Wirksamkeit der Einzellandtage26) erlitt durch die den Faktoren der Reichsgesetzgebung übertragenen Befugnisse eine nicht unbeträchtliche Schmälerung (vergleiche oben Nr. 9 und die §§ 4 Ziff. III 1 u. Ziff. IV 3, dann § 5 Ziff. II 10 u. 11, ferner § 6 Ziff. III u. Ziff. V 1, 2 u. 6, endlich § 7).

II. Wie aus Vorstehendem zu ersehen, ist der Einfluß des Bundesrechts auf das Landesstaatsrecht ein ziemlich bedeutender; da jedoch immerhin nur einzelne Machtbefugnisse der Einzelstaaten durch das Reich vollkommen absorbirt wurden (vergleiche die vorstehende Ziff. I Nr. 6, 15 u. 16, dann § 3 Ziff. I, II u. VII ff.), im übrigen aber nur Bruchstücke der verschiedenen Kompetenzen an die Reichsgewalt übergiengen, so ist über den Fortbestand der Souveränität der Landesregierungen kein Zweifel; dieselben haben auch fernerhin eine umfassende Aufgabe zu lösen und zwar um so mehr, als der Vollzug der meisten Reichsgesetze durch die Landesbehörden zu erfolgen hat.

1) Aufrecht erhalten bleiben insbesondere die Grundsätze, daß das Staatsgebiet gegenüber dem Auslande ein freies und unabhängiges ist, und ein untheilbares, unveräußerliches Ganzes bildet.27) Desgleichen steht den Landesregierungen kraft der Territorialgewalt auch fernerhin das Recht zu, die Bedingungen, unter denen sich Nichtdeutsche im Inlande aufhalten etc. dürfen, festzusetzen und gegebenenfalls die Landesverweisung zu verfügen, die Voraussetzungen des Eigenthumserwerbs und des Anspruchs auf herrenloses Gut sowie die Grenzzeichen des Grundeigenthums zu bestimmen, und das Staatsgebiet zu öffentlichen Zwecken zu benützen.28)

2) Die Bestimmungen, unter denen das Staatsbürgerrecht29) im engeren Sinne in den Einzelstaaten erworben und verloren wird, die landesgesetzlichen Vorschriften über Glaubens- und Gewissensfreiheit, das Petitions- und Beschwerderecht der Unterthanen, sowie deren öffentliche Pflichten (mit Ausnahme der Wehrpflicht), dann die Landesgesetze über die Zwangsabtretung30) bleiben unberührt.

3) Dasselbe ist der Fall mit den landesgesetzlichen Bestimmungen über den Adel, die Familienfideicommisse, die gutsherrlichen Rechte, die Verhältnisse der Standesherrn und der Familienglieder der regierenden Häuser, und über die sonst bevorrechteten Staatsangehörigen.31)

4) Ebenso verhält es sich mit den Rechten des Fiskus, der öffentlichen Stiftungen und Kirchengesellschaften, dann mit der Gemeinde-, Distrikts- und Kreisverfassung.32)

5) Völlig unangetastet ist ferner das Landesrecht33) in Bezug auf die Kronrechte im engeren Sinne, die Thronfolge, die Reichsverwesung, die Majestätsrechte sowie die Heiligkeit und Unverletlichkeit der Monarchen, die landesfürstlichen Episkopal- und Lehenrechte, die Familien- und Vermögensrechte der Landesherrn.

6) In Ansehung der gesetzgebenden Gewalt und des Verordnungsrechts, dann der Regierungsgewalt, der Justiz-, Polizei-, Finanz und Repräsentativgewalt und der Staatspflege34) sind die Zuständigkeiten zwischen den Einzelstaaten und dem Reiche, wie oben sub Ziff. I Nr. 9—16 erörtert worden, getheilt; es verbleiben aber auch in allen diesen Beziehungen den Einzelstaaten noch umfassende Rechte.

So erstreckt sich z. B. die gesetzgebende Gewalt der Einzelstaaten auf alle die vorstehend sub Ziff. 1-4 erwähnten Materien, desgleichen auf das Personen-, Sachen- und Erbrecht, dann auf das spezielle Landesstaatsrecht, das Kultus- und Unterrichtswesen, und eine Reihe von Gegenständen der Polizei und öffentlichen Wohlfahrtspflege namentlich auf die Landeskultur etc. - Sodann bleiben die staatsrechtlichen Normen, an welche das Staatsoberhaupt bei Ausübung des Gesetzgebungs- und Verordnungsrechtes gebunden ist, aufrecht. Fortbestehend ist ferner das Begnadigungsrecht; desgleichen das Recht, die Verwaltungsbehörden zu organisiren und die Kirchenhoheit.

Die Landesregierungen genießen auch fortan das Recht, die für die Verwirklichung des Staatszwecks erforderlichen Mittel beizuschaffen und zu verwenden; auf die Benützung und Verwaltung des Staatsgutes, dann auf das Budgetrecht und das Besteuerungsrecht der Einzelstaaten hat die Reichsgesetzgebung, soweit es sich nicht um Gegenstände des Reichsbudgets z. B. die Militärverwaltung oder Reichssteuern handelt, keinen Einfluß.

Auch ist den Einzelstaaten unbenommen, Münzen zu schlagen und Staatsanleihen zu contrahiren, und sind dieselben in dieser Hinsicht nur durch die Reichsgesetzgebung über das Münzwesen, die Emission von Papiergeld und die Prämienanleihen beschränkt. (Ges. über die Ausgabe von Papiergeld vom 16. Juni 1870; dann Gesetz, betreffend die Inhaberpapiere mit Prämien vom 8. Juni 1871).

7) Die Einzelstaaten sind ferner befugt, Gesandtschaften zu halten und mit auswärtigen Mächten Verträge zu schließen, das letzere jedoch nur insoferne als das Vertragsobjekt nicht ausschließend in die Zuständigkeit des Reiches fällt, wie z. B. die Friedensschlüsse oder Zollverträge, oder nicht bereits durch einen vom Reiche abgeschlossenen Vertrag erschöpfend behandelt ist.

8) Die Verhältnisse der Staatsdiener zu den Landesregierungen fallen auch fernerhin in den Bereich des Landesrechts.35)

9) Die Landesgesetze über die Volksvertretung,36) in specie die Zusammensetzung der Landtage (Zwei- oder Einkammersystem, Landtagswahlen), dann über den Beginn, die Dauer und Consstituirung der Landtage, ferner über deren Rechte in Bezug auf die Zustimmung zu den Landes-Gesetzen, Steuern und Anlehen und in Bezug auf die Wahrung der Landesverfassung, sowie über die autonomen Befugnisse der einzelnen Kammern (Geschäftsordnung etc.) bleiben aufrecht. In § 11 des deutschen Strafgesetzbuches ist in einer für alle Einzelstaaten verbindlichen Weise bestimmt, daß kein Mitglied eines Landtags oder einer Kammer eines zum Reiche gehörigen Staates außerhalb der Versammlung, zu welcher das Mitglied gehört, wegen seiner Abstimmung oder wegen der in Ausübung seines Berufes gethanen Aeußerung zur Verantwortung gezogen werden darf. Desgleichen ist in § 12 ibid. bestimmt, daß wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen eines Landtags oder einer Kammer eines Bundesstaats von jeder Verantwortung frei bleiben.

10) Aufrecht erhalten bleiben endlich die in den Landesverfassungen vorgesehenen Garantien37) der Verfassung, nämlich die Bestimmungen über die Verfassungseide, die Verantwortlichkeit der Minister, die Ministeranklage und den Staatsgerichtshof, und über die besonderen Förmlichkeiten bei Verfassungsveränderungen. Es versteht sich jedoch von selbst, daß sich diese Garantien nicht mehr auf Gegenstände beziehen, welche den Landesverfassungen entrückt und den Trägern der Reichsgewalt und deren Organen zur Regelung und resp. Übernahme der Verantwortlichkeit zugewiesen sind; vergleiche hiezu §6, Ziff. V, 6 und § 8.

1) Vergl. hiezu die Bemerkungen in Art. 1 Note 2 der Verfassung, dann das Lehrbuch des bayrischen Verfassungsrechts von Dr. Joseph v. Pözl IV. Auflage § 20-22, ferner Das Staatsrecht der preußischen Monarchie von Dr. v. Rönne 3. Auflage Bd. I I. Abthlg. § 32-35.

2) Ueber die Verhältnissse der Unterthanen und Fremden in Bayern, dann über das bayerische Indigenat s. Pözl 1. c. § 23-26. Das bayrische Staatsbürgerrecht im engeren Sinne wird durch die Reichsgesetzgebung nur hinsichtlich der Gleichberechtigung der Konfessionen berührt. Ueber die bezilglichen Verhältnisse in Preußen s. Rönne 1. e. Bd. I Il. Abthl. § 86—89.

3) Bezüglich der in Bayern bestehenden landesgesetzlichen Bestimmungen über die Freiheit und Sicherheit der Person, die Presse, das Vereins- und Versammlungsrecht, die Verehelichung, das Petitionsrecht und das Recht auszuwandern vergl. Pözl ibid. § 27-32. Ueber die Freiheit und Sicherheit der Person und des Eigenthums in Preußen s. Rönne I. c. § 89-100.

4) Die in Bayern bisher geltenden Bestimmungen über die Sicherheit des Vermögens der Unterthanen, das Urheberrecht und die Zwangsabtretung siehe bei Pözl 1. c. $§ 33 u. 34; — Ueber die Freiheit und Sicherheit des Eigenthums in Preußen s. Rönne 1. c. § 94 und 95.

5) Vergl. hierüber Pözl I.. c. § 35 und 36 dann Rönne II. c. § 99.

6) Ueber die Unterthanenpflichten der bayrischen Staatsangehörigen s. Pözl 1. c. § 37-42; über die staatsbürgerlichen Pflichten in Preußen siehe Rönne § 102-105.

7) In Bayern ist die Wehrpflicht gegenüber dem Reiche im Frieden nur eine mittelbare, im Kriege dagegen gleichfalls eine direkte.

8) Vergl. hiezu Pözl 1. c. § 43-88, worin die bayrischen Bestimmungen über den Adel, der Familienfideikommisse, die Siegelmäßigkeit, die Rechtsverhältnisse der guts- und standesherrlichen Familien, sowie der Familienglieder des königl. Hauses, dann über die rechtliche Stellung der Juden näher entwickelt find ; über die deßfallsigen preußischen Verhältnisse s. Rönne I. c. § 106-108.

9) Hinsichtlich der Verhältnisse der bayrischen Orts-, Distrikts- und Kreisgemeinden, dann des bayrischen Heimatwesens vergleiche Pözl 1. c. § 97-145, dann meine Kommentare zu den bayrischen Gesegen über Heimat, Verehelichung und Aufenthalt, und über die öffentliche Armenpflege. Ueber die Provincial-Stände, die Kommunallandstände und die Kreisstände in Preußen s. Rönne I. c. § 142-183.

10) Das Gesetz über die Aufhebung der polizeilichen Beschränkungen der Eheschließung vom 4. Mai 1868 gilt in Bayern nicht.

11) Vergl. über die Verhältnisse in Bayern oben den § 3 Ziff. VII Nr. 1.

12) Die Bestimmungen des Art. 9 des bayrischen Heimatgesetzes, dann der Art. 14 und resp. 12 der bayrischen Gemeindeordnungen für die Landestheile diess. des Rhs. und resp. für die Pfalz treten demnach außer Wirksamkeit. Ferner ist klar, daß von Bundesangehörigen, welche die Heimat oder das Bürgerrecht in Bayern erwerben, keine höhere Gebühr als von Inländern erhoben werden darf. Einen, wenn auch sehr unbedeutenden Einfluß auf die bayrische Gemeindeumlagengesetzgebung äußert der § 8 des Freizügigkeitsgesetzes, wonach Bundesangehörige, welche nicht über 3 Monate in der Gemeinde sich aufhalten, nicht zu den Gemeindelasten beigezogen werden können.

13) Ueber die gesetzgebende Gewalt des Königs von Bayern siehe Pözl II. c. § 160-164; über die gesetzgebende Gewalt in Preußen siehe Rönne I. Bd. I. Abthlg. § 45-50.

14) Vergl. hiezu Pözl I. c. § 165 und 166; Rönne I. c. § 51 u. 52.

15) Vgl. hiezu Pözl 1. c. § 167-170; dann Rönne I. c. § 53-58.

16) Siehe hiezu § 2 Ziff. VI.

17) Das dem Reiche zustehende Recht, das gerichtliche Verfahren zu regeln, schließt auch Organisationsbefugnisse in sich.

18) Vergl. Pözl 1. e. § 171 u. 172; dann Rönne I. c. § 59-62.

19) Siehe Pözl I. c. § 173.

20) In Bezug auf Bayern s. Pözl 1. c. § 176 ff. ; in Bezug auf Preußen siehe Rönne I. ce. §63—72.

22) Ausnahmen finden statt in Betreff der Bier- und Branntweinsteuer zu Gunsten Bayerns, Württembergs und Badens, daun in Betreff der Post- und Telegraphenverwaltungserträgnissse zu Gunsten Bayerns und Württembergs (Art. 38, lezter Absatz und Art. 52 letzter Absatz der Verf.).

22) Vergl. Pözl I. c. 8 182-184; dann Rönne, Staatsrecht der preußischen Monarchie Bd. I Abtheilung I S. 456 ff. § 73 ff.

23) Vergl. Pözl 1. c. § 185-188, dann Rönne I. c. § 75-78.

24) Ueber das Verhältniß des Vertragsrechtes des Reiches zur Vertragsbefugniß der Einzelstaaten s. Rönne 1. c. Bd. I Abth. II § 204.

25) Vergl. Pözl 1. c. §$ 189-196, dann RönneI. c. Abth. I1 § 227-233.

26) Vergleiche Pözl 1. c. § 21 dann hinsichtlich der Verhältnisse in Preußen Rönne I. ce. § 109-141.

27) Vergl. Pözl 1. c. § 21 u. 24.

28) Vergl. Pözl 1. c. § 22 und 34.

29) Die Fähigkeit zum Erwerbe und Besitze darf nun nicht mehr vom Glaubensbekenntnisse abhängig gemacht werden (siehe oben Ziff. I Nr. 3).

30) Vergl. Pözl I. c. § 26, 27, 31, 340837 und 41, dann die norddeutsche Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 § 51.

31) Siehe Pözl 1. e. § 43—86.

32) Vergl. Pözl 1. ce. ß 89-145.

33) Vergl. Pözl 1. c. § 1467159.

34) Vergl. Pözl 1. c. 8 160-182, 185-188.

35) Vergl. Pözl 1. ce. § 197-205.

36) Vergl. Pözl 1. c. § 206-235

37) Vergl. Pözl 1. c. § 236-239

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